Schwimmt nicht mit dem Strom, sondern macht euch von den Strukturen dieser Zeit frei, indem ihr euer Denken erneuert. So wird euch deutlich, was Gott will: das Gute, das, was Gott Freude macht, das Vollkommene. (Röm 12, 2)
Es folgt Teil zwei des Aufstiegs, und oben angelengt befinde ich mich wieder auf einer jener scheinbar endlosen Ebenen aus feuchtem Grasland, wo überall irgendein Rinnsal vor sich hin plätschert und fast hinter jedem Hügel oder Birkenwäldchen ein kleiner See in der Sonne funkelt. Hier und da schrecke ich unbeabsichtigt ein paar Birkhühner auf, die heftig mit den Flügeln schlagend die Flucht ergreifen und dabei ihren schrillen langgezogenen Warnruf ausstoßen, der so ähnlich klingt wie „Weg, weg, weg, weg, weg…“ Die Rentiere, die längs des Pfades grasen, gehen ebenfalls auf Abstand, sobald sie mich erblicken, wenn auch weniger panisch und geräuschvoll.
Nachdem ich einen kalten Fluss durchwatet habe, wodurch die Birkhühner Gelegenheit bekommen, auch mich mal schreien zu hören, steigt der Weg hart an. Es öffnet sich ein ungeheuer weiter Blick: bis zum Horizont nichts als Berge, Berge und wieder Berge, ganz so als stünde ich auf einer dreidimensionalen Landkarte. Die Welt sieht aus wie ein wogender Teppich gewebt aus dem tiefen Grün des Waldes in den Tälern, dem Glanz der Seen, den Rot- und Brauntönen der Sumpf- und Heideflächen, dem grellen Weiß des Schnees und dem schwärzlichen Grau der nackten Felswände.
Die ständige Anstrengung und Angst mancher Menschen ist fast eine unheilbare Krankheit geworden. Wir sind geneigt, die Wichtigkeit unserer Arbeit zu überschätzen. Und doch: wie vieles ist ohne unser Zutun geschehen? Und wenn wir krank geworden wären? Wie vorsichtig sind wir doch! Wo es sich nur vermeiden lässt, sind wir entschlossen, ohne Vertrauen auszukommen. Den ganzen Tag auf der Hut, sprechen wir abends nur unwillig unsere Gebete und überlassen uns dem Ungewissen. So unbedingt und ausschließlich hängen wir an dem Leben, das wir führen, halten es hoch und verschließen uns jeder Möglichkeit einer Änderung. Das ist der einzige Weg, sagen wir. Aber es gibt so viele Wege, wie wir Radien von einem Mittelpunkt aus ziehen können. Jede Veränderung ist ein Wunder, des Nachdenkens wert, allein es ist ein Wunder, das sich jeden Augenblick vollzieht. (Thoreau, Walden)
Gegen 17 Uhr habe ich für heute genug. Ich schlage mich zwischen den Bäumen hindurch zum Kultsjön hinunter und lege mich am Strand in die Sonne. Die Steinchen sind ganz fein und passen sich genau der Form meines Körpers an. Es ist mindestens so bequem wie in einem Bett.
Bis spät in den Abend bleibt es angenehm warm. Ich sitze auf einem Felsen am Ufer und lese „Tom Sawyer“. Zu meinen Füßen branden sanft die Wellen an. Das Wasser ist glasklar. Ab und zu strecke ich die Hand aus und schöpfte mir etwas davon in meine Tasse. Was für ein Kontrast, gestern noch mitten im Schnee und heute am sonnenverwöhnten Privatstrand! Gott sorgt für mich, jeden Tag aufs Neue und immer wieder auf andere, wunderbare Weise.
Wenn du ein glückliches Leben willst, verbinde es mit einem Ziel, nicht aber mit Menschen oder Dingen. (Albert Einstein)
Ich verlasse den Vildmarksvägen und gelange um die Mittagszeit an einen Staudamm, hinter dem sich der riesengroße Ransarn erstreckt. Ungefähr hier überschreite ich die 2000-km-Marke und weiß nicht, ob ich jubeln oder weinen soll. Ich lebe einen Traum von beinah unwirklicher Herrlichkeit, aus dem ich niemals mehr erwachen möchte. Als ich aufgebrochen bin, habe ich gedacht, ich nehme mir eine Auszeit und kehre dann in mein Leben zurück. Aber wird das so ohne Weiteres funktionieren? Werde ich den unnötig komplizierten Alltag mit all dem überflüssigen Ballast noch ertragen können? Und falls nicht, was ist die Alternative?
Am liebsten war es ihm, wenn er allein durch Wiesen und Wälder schweifen und, wie losgelöst von allem, was ihn an sein dürftiges Leben fesselte, nur im Anschauen der mannigfachen Bilder, die aus seinem Innern stiegen, sich gleichsam selbst wiederfinden konnte. (E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf)
Der Pfad am Virisen entlang führt durch dichten Wald. Es ist schwülwarm und feucht, alles rankt und blüht. Ich komme mir vor wie in einem Treibhaus. Die Kronen der Birken schließen sich über mir zu einem Dach, das große Teile des Himmels bedeckt; vom See ist kaum etwas zu sehen. Der Boden ist voller bunter Blumen und Felsen, die üppig von Gras und Moos überwuchert sind. Die Welt wirkt wie in grüne Farbe getaucht. Es geht beständig auf und ab, nicht jeder überwachsene Stein bietet festen Halt, Baumstämme liegen im Weg, Zweige schlagen mir ins Gesicht und hier und da schmatzt es morastig unter meinen Füßen.
In der Wüstelei unseres Jahrhunderts gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Uns kommt nur noch die Komödie bei. (Friedrich Dürrenmatt)
Schluss mit Sommer. Schon nachts hat es zu regnen begonnen und morgens prasseln immer noch unentwegt dicke Tropfen auf mein Zelt. Ich setze mich auf, ziehe mir die Wollmütze tiefer in die Stirn und kuschele mich wieder in den Schlafsack. Es fällt mir wirklich schwer, mich zum Aufstehen zu motivieren. Ich versuche mir Mut zuzusprechen und zu tun, was ich mir für solche Situationen vorgenommen habe: nicht nachdenken, sondern einfach weitermachen.
Jeder Schritt, jeder Handgriff hat eine Wirkung und bringt mich dem Nordkap ein kleines Stück näher, auch dann, wenn ich mich winzig fühle und der Weg unendlich lang erscheint. Ich darf nur nicht lockerlassen und muss tapfer einen Fuß vor den anderen setzen – Sekunde für Sekunde, Zentimeter für Zentimeter. Irgendwann wird sich das zu 5 Monaten und 3325 km summiert haben und ich werde am Nordkap stehen.
Das morgendliche Einpacken, ein knirschender Schotterweg unter meinen Füßen, die Überquerung eines Flusses, schmatzende Tritte im Sumpf, ein grandioses Bergpanorama, bedächtiges Schlendern auf asphaltierter Landstraße, ein Schluck Wasser aus einem Bach, hier Sonne, da Regen, die Suche nach einem neuen Schlafplatz – so stapeln sich Stück für Stück scheinbar belanglose Kleinigkeiten übereinander wie Steine in einer Mauer, und irgendwann ist mein Traum kein Luftschloss mehr.
Ich raffe mich auf, pelle mich aus dem Schlafsack, schlüpfe in die Wanderklamotten, streife das Regenzeug über und stopfte – halb sitzend, halb hockend – meinen Krempel in den Rucksack. Dann öffne ich den Reißverschluss und trete in die graue, verregnete Suppe hinaus. Mein triefendes Zelt wandert zusammen mit gefühlten drei Litern Wasser in den Packbeutel.
Es schüttet wie aus Eimern. Meine hoffnungslos undichten Schuhe sind schlammverkrustet und tonnenschwer, die nassen Socken kleben an meinen aufgeweichten, wunden Füßen. Der Regen schlägt mir ins Gesicht, arbeitet sich unter den hochgeschlossenen Jackenkragen vor und läuft in kleinen Bächen meinen Oberkörper hinunter.
Ein matschiger Pfad führt mich in ein Dorf. Ich halte inne und schaue zu den roten Holzhäuschen hinüber. Wie gern hätte ich jetzt so ein Dach über dem Kopf. Damit die Sehnsucht nach einem Platz in einem der Wohnzimmer jenseits dieser Fenster nicht unerträglich wird, gehe ich rasch weiter.
Nach einigen Stunden verlässt mich die Kraft. Ich kann einfach nicht mehr und brauche dringend eine Pause. Ich versuche im Wald längs des Weges ein passables Plätzchen für eine Rast zu finden, aber der Regen ist zu stark, als dass mir die Baumkronen Schutz bieten könnten. Schließlich setze ich mich auf die nasse Erde und beschließe das Wetter einfach zu ignorieren. Ich stelle mir vor, ich wäre eine Ente und das Wasser würde sich, sobald es mich berührt, zu kleinen Tropfen zusammenziehen und abperlen. Outdoor-Klamotten von der Qualität eines Entengefieders, das wäre grandios!
Mit blauen, verfrorenen Fingern wickele ich unbeholfen ein paar Schokoriegel aus. Süßkram hilft so ziemlich gegen alles, auch gegen Fröstelei, Unlust und Erschöpfung. Plötzlich muss ich grinsen. Ein kleines Menschlein sitzt hier irgendwo im nirgendwo, nicht mehr allzu weit vom Polarkreis entfernt, in strömendem Regen unter ein paar Fichten, stopft sich Schokolade in den Mund und träumt davon, auf seinen zwei kurzen Beinchen zum Nordkap zu laufen. Ist das nicht einfach nur jämmerlich, närrisch und vollkommen absurd?
Ich lege mich auf den Rücken und schaue zwischen den Zweigen hindurch in den diesigen Himmel hinauf. Ich schließe die Augen und betrachte im Geiste den Wald und mich darin von oben. Ich sehe Berge, Seen, Häuser, Straßen und Städte, dann das Meer, andere Kontinente und irgendwann die ganze Erde. Überall wuseln Menschen herum und verbringen ihre Zeit mit jämmerlichen, närrischen und vollkommen absurden Beschäftigungen. Ich breche in schallendes Gelächter aus, so laut und unvermittelt, dass ich mich beinah selbst davor erschrecke.
Und was das Schicksal der Menschen und das Schicksal der Tiere angeht: Ein und dasselbe Schicksal steht ihnen bevor. Der Tod von diesen gleicht dem Tod von jenen. Sie haben denselben Atem. Die Menschen haben keinen Vorrang vor den Tieren. (Koh 3, 19-21)
Links der Straße entdecke ich ein Schild mit Hinweisen für Angler. Daneben verschwindet ein schmaler Pfad zwischen den Bäumen. Ich folge ihm aufs Geradewohl, in der Hoffnung, dass er mich zu einem geeigneten Platz für mein Zelt führen wird, und tatsächlich: Nach ungefähr 10 Minuten stehe ich am Ufer des Västansjön, das zwar größtenteils von undurchdringlichem Gestrüpp bewachsen ist, hier jedoch eine winzige Kiesbucht formt, in die mein Zelt genau hineinpasst.
Der Västansjön ist Teil einer Kette von Seen, die über schmalere Wasserarme miteinander verbunden sind. Mein Schlafplatz liegt an der Mündung eines solchen Armes. In Richtung Nordosten erhebt sich ein Hochgebirgspanorama, jetzt nicht mehr nur schemenhaft, sondern ganz deutlich in all seiner Erhabenheit und Unnahbarkeit.
Noch ist es trocken und ich nutze die Gelegenheit, um meine Klamotten in den Wind zu hängen und mich so gut es geht im See zu waschen. Dabei sehe ich plötzlich aus dem Augenwinkel wie sich das Wasser zu seichten Wellen aufwirft. Kommt da ein Boot vorbei? Ich wende den Kopf und traue meinen Augen nicht: Kein Boot, da schwimmt ein Elch, ganz ruhig und gemächlich und dennoch erstaunlich schnell. Er erreicht das andere Ufer und steigt an Land. In seinen Bewegungen liegt etwas ungeheuer Majestätisches. Völlig übergangslos ohne zu zögern, zu stolpern oder zu verharren verschwindet er so elegant und lautlos im dichten Wald, als öffnete und schlösse sich das hochstehende Gestrüpp wie ein leichter Vorhang. Die Wasseroberfläche glättet sich und alles sieht genauso aus wie zuvor, als hätte ich nur geträumt.
Alle Menschen sollten ihre Kindheit von Anfang bis Ende mit sich tragen. (Astrid Lindgren)
Der Campingplatz liegt an der E12 ein kleines Stück außerhalb des Ortes. Ich muss unbedingt Wäsche waschen. Leider gibt es keinen Trockner. Ich kann morgen zusätzlich zu meinem neuen Proviant unmöglich auch noch einen Berg nasser Klamotten mit mir herumtragen. Während die Maschine läuft, sehe ich mich nach einer Lösung für mein Problem um. Die Küche mit angegliedertem Aufenthaltsraum ist sehr geräumig. An der Fensterfront steht eine Reihe Sessel und dahinter befinden sich mehrere Heizkörper, die allesamt richtig schön warm sind. Zwar gibt es Schilder, die es ausdrücklich verbieten, irgendwas darüber zu hängen, vermutlich wegen der Brandgefahr, aber ich werde die ganze Zeit hier sitzen bleiben und aufpassen.
Ich hole alles, was ich für den Rest des Abends brauche, her – Tagebuch, „Tom Sawyer“, Kochtopf, Löffel, Essen und zum Schluss die nasse Wäsche. Zum Glück habe ich die Küche um diese Zeit noch ganz für mich allein und kann in aller Ruhe mein Zeug aufhängen. Anschließend schiebe ich die Möbel wieder vor die Heizkörper, so dass alles gut versteckt ist.
Ich versinke in einem der Sessel und lese. Nach einer Weile betritt eine korpulente ältere Frau mit einer Plastikschüssel voll dreckigen Geschirrs den Raum. Während sie abwäscht, kommen wir ins Gespräch und ich erzähle ihr von meiner Reise. Sie hat den Wetterbericht gehört und meint, dass ab morgen wieder die Sonne scheinen soll. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt oder ob sie mich nur aufmuntern will. Aber wie dem auch sei, auf jeden Fall ist es nett gemeint.
Unser Gespräch verläuft ein wenig kurios, weil sie mich offenbar für deutlich jünger hält als ich bin. So wie sie mit mir redet, schätzt sie mich auf gerade eben volljährig und nimmt an, dass das hier so eine Art Coming of Age-Tour ist. Sie sagt Sätze wie „Oh poor boy, you need more sun“ oder „I hope your parents know where you are“ oder „You are so young and free, enjoy it as long as you can.“ Ich mache mir einen Spaß daraus, das alles so stehen zu lassen und es einfach als Kompliment zu nehmen. Schließlich hat sie mir gerade schlappe 15 Jahre geschenkt.
Mit jedem Schritt, den wir gehen, wird uns die Natur vertrauter. Mit jedem Tag unterwegs, vor allem aber in den Nächten, die wir im Tausend-Sterne-Hotel im Freien verbringen, eingehüllt in den Schlafsack, fühlen wir uns mehr und mehr als Teil der Natur. Die Hitze des Tages, die empfindliche Kälte der Nacht, wir gehören bald einfach zu Tag und Nacht dazu wie die Käfer und Blumen am Weg. Mit der Natur hautnah auf Du und Du. Mit ihr atmen, in ihr sich zur Ruhe legen, mit ihr aufstehen können, sind die großen Geschenke für den, der sich in seinen Mantel hüllt und auf ein schützendes Dach verzichtet. (Roland Breitenbach)
Tatsächlich kann ich die heutige Etappe in trockenen Schuhe beginnen. Was für ein unerhörter Luxus! Das allererste Stück geht es noch an der E12 entlang, doch schon nach wenigen hundert Metern biege ich auf einen Schotterweg in Richtung Nordosten ab. Hier ist es deutlich ruhiger. Es liegen nur vereinzelt Häuser am Weg und etwa alle halbe Stunde überholt mich ein Auto.
Ein Mann hält an und fragt, ob er mich ein Stück mitnehmen soll. Natürlich lehne ich wie immer höflich ab. Heute fällt das nicht allzu schwer. Zwar ist es recht windig und es stehen ein paar Wolken am Himmel, aber immer wieder kommt die Sonne durch und scheint warm herab. Ab und zu tritt der Wald zurück und gibt den Blick auf postkarten-verdächtige Motive mit herrlichen Blumenwiesen vor schroffen schneebedeckten Gipfeln frei. Der Gedanke, diese wunderschöne Strecke mit dem Auto zurückzulegen, erscheint mir vollkommen abwegig.
Leben ist heilig, das heißt der höchste Wert von dem alle Wertungen abhängen. (Albert Einstein)
Vielleicht muss man wochenlang durch menschenleere Landschaft stapfen, über Stock und Stein, durch Sumpf, Schnee und eiskalte Flüsse, damit sich einem die ganz offensichtlichen Wahrheiten endlich so sehr aufdrängen, dass man anfängt danach zu leben. Unterwegs fühle ich mich genauso klein, wie ich tatsächlich bin. Ich spüre meine Verlorenheit, meine Winzigkeit und meine Ohnmacht. Das ist angsteinflößend und wunderschön zugleich. Ich gewinne das Bewusstsein über meine Verletzlichkeit zurück und damit auch die Dankbarkeit für jeden Atemzug, jeden Herzschlag, jeden Bissen Brot und jeden Schluck Wasser. Ich lerne mich voll Demut vor dem Wunder des Lebens zu verneigen und einer höheren Macht anzuvertrauen, die mir Sicherheit schenkt, wo menschliches Vermögen an seine Grenzen stößt.
Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir erkennen, wie sehr wir angewiesen sind auf all die Dinge hier draußen, die mit unserem Alltag scheinbar nichts mehr zu tun haben, die aber in Wirklichkeit all das entstehen und wachsen lassen, was wir uns täglich in den Schlund stopfen, was durch unsere Gedärme wandert, unseren Körper und Geist am Leben erhält und handlungsfähig macht, was hinterher in unsere Hochglanztoiletten plumpst und irgendwann wieder zu Erde wird, genau wie wir. Wir müssen spüren lernen, wie sehr das, was wir da im Begriffe sind unwiderruflich zu zerstören, eins mit uns ist. Das Leben hat einen Wert an sich, der nicht zweckgebunden ist und sich nicht an wirtschaftlichen Gewinnen bemisst.
Die Sterne waren klar, glänzten in verschiedenen Farben wie Diamanten, aber keineswegs kalt. Ein matter silbriger Dunst sollte die Milchstraße sein. Um mich in der Runde ragten stockstill die schwarzen Baumkronen… Es gab keinen anderen Laut außer dem nicht zu beschreibenden leisen Geplauder des Bächleins auf den Steinen… Ein leiser Windhauch eher eine wallende Kühle als ein Luftstrom, durchzog von Zeit zu Zeit die Lichtung, so dass selbst die Luft in meinem großen Zimmer die ganze Nacht hindurch ständig erneuert wurde. Mit Entsetzen dachte ich an den Gasthof und die Ansammlung von Nachtmützen zurück, mit Entsetzen an den nächtlichen Schneid von Schreibern und Studenten, an heiße Theater, an Hausschlüssel und an geschlossene Räume. Ich habe mich nicht oft einer so heiteren Selbstgewissheit erfreut oder mich so unabhängig von materiellen Hilfen gefühlt. Die Außenwelt, vor der wir uns in unsere Häuser ducken, stellt sich am Ende als ein huldreicher, wohnlicher Ort heraus, und Nacht für Nacht war anscheinend dem Menschen ein Bett bereitet, das auf ihn wartete auf der weiten Flur, wo Gott ein offenes Haus hält. (Robert L. Stevenson, Mit dem Esel durch die Cevennen)
Schließlich führt mich ein Trampelpfad steil ansteigend vom Ufer weg. Hinter der Baumgrenze öffnet sich ein grandioser Blick zurück auf Ammarnäs und das weitläufige, dicht bewaldete Flusstal. Weiße Schäfchenwolken werfen ihre Schatten auf die grünenden Hänge gegenüber. Vor mir dehnt sich eine unendlich weit erscheinende, leicht hügelige, rötlichbraune Hochebene aus. Bis zum Horizont nichts als Heidekraut, Flechten, Blaubeergesträuch und Gräser, die sich sanft im Wind biegen, dazwischen unzählige kleine Felsen, und hier und da die bläulich blitzende Wasseroberfläche eines Sees.
Ich laufe einfach so in diese Weite hinein und fühle mich unendlich sorglos und frei. Über mir ist nur der Himmel. Ich bin ein winziger Punkt mitten im Nirgendwo, viel kleiner noch als eine Stecknadel im Heuhaufen. Ich bin allen Zwängen entwachsen, ich muss keine Kompromisse eingehen, ich kann tun und lassen, was ich will und für richtig halte. Ich habe über niemanden zu bestimmen und niemand bestimmt über mich. Natürlich ist das eine Illusion, aber sie ist perfekt. Ich pfeife und singe und meine Gedanken schweifen ungehemmt ins Grenzenlose. Die Sonne wärmt mich, ich trinke aus den Bächen am Weg und der Wind zerzaust mir die Haare.
Nach einigen Stunden werde ich müde und sehe mich nach einem Schlafplatz um. Oberhalb eines sanft plätschernden Rinnsals findet sich ein ebenes Stück Wiese. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch eine schattige Felsspalte, die noch voller Schneereste ist. Ich setze mich auf einen seicht umspülten Stein und wasche mich so gut es eben geht. Bis hier hinab dringt die Sonne nicht, und es fühlt sich an als steckte ich in einem Eisloch.
Oben am Zelt wird mir rasch wieder warm. Beim Abendessen blicke ich versonnen auf den unverstellten Horizont ringsum. Ich versuche mir Berlin vorzustellen – irgendetwas, eine Straße, einen Park, eine Häuserzeile, doch all das, was mir eigentlich so vertraut sein sollte und noch vor wenigen Monaten alltäglich gewesen ist, liegt weit entfernt und fremd, wie verborgen unter einem dicken, schweren Schleier.