5. Juli

Mitten im Regen wurde ich mir plötzlich so innig und beglückend der Gesellschaft der Natur bewusst, dass ich sogar im Plätschern der Tropfen, in jedem Laut, jedem Anblick ein unbegrenztes, unerklärliches Wohlwollen wahrnahm, das mich wie ein frischer Luftzug belebte und den eingebildeten Vorteil menschlicher Nähe sofort vergessen ließ. Jede kleine Fichtennadel schwoll und wuchs mit Zuneigung und nahm sich meiner an. Mir wurde die Gegenwart von verwandten Geistern deutlich zu Bewusstsein gebracht, sogar in solchen Umständen, die wir gewöhnlich wild und finster nennen; was ich meinem Blut am nächsten empfand und was am menschlichsten, war keineswegs ein Mensch oder ein Dorfbewohner; so dass ich schließlich wusste, dass mir kein Ort jemals wieder fremd vorkommen würde. (Thoreau, Walden)

Am Fuße des Berges Lihtti schlage ich mein Zelt auf. Nach ein paar akrobatischen Übungen beim Ausziehen der Regenklamotten auf den 2 m² meiner Behausung, liege ich schließlich angenehm warm und dick eingepackt auf meiner Isomatte. Schlafsack und Nachtkleidung sind im wasserdichten Packsack zum Glück trocken geblieben. Herrlich, was will man mehr! Naja, etwas Warmes zu essen wäre nicht verkehrt. Aber um draußen den Kocher anschmeißen zu können, muss ich warten, bis der Regen schwächer wird. Also schreibe ich erstmal eine Weile Tagebuch. Das geht auch mit knurrendem Magen.

Nach einer halben Stunde tröpfelt es nur noch. Ein Blick hinaus deutet allerdings darauf hin, dass das „gute Wetter“ nicht lange anhalten wird. Noch immer ist alles Grau in Grau und die nächste Wolke hängt zum Abregnen bereit tief über mir. Neben mir wölbt sich schwarz der Lihtti empor, und selbst die Streifen von Schnee, die dort oben noch liegen, strahlen heute keinerlei Helligkeit aus. Hier unten läuft der Hang in eine dunstige Wiesenlandschaft aus, wo unverdrossen ein paar Rentiere grasen.

Kaum sind die Nudeln warm, muss ich mich wieder hinter einem zugezogenen Reißverschluss verkriechen. Ich lese „Tom Sawyer“ zum gefühlt hunderttausendsten Mal. Zwischen den Schauern, wenn gerade mal kein Regen aufs Zelt prasselt, höre ich manchmal das Schnaufen und Schnauben eines Rentiers. Offenbar haben sie begriffen, dass ihnen nichts droht von dem kleinen gelben Ding, das da einsam und unbeweglich in der Landschaft steht, und wagen sich näher heran.  

6. Juli

Die individuelle und geistige Existenz endet mit dem Tod. Das ist kein Gedanke, der mir Schrecken einflößt, dass ich ein Teil der Natur bin, dass ich wie ein Blatt herunterfalle und vermodere, und dann wächst der Baum weiter, und das Gras wächst und die Vögel singen, und ich bin Teil dieses Ganzen. Ich bin zu Hause in diesem Kosmos. (Dorothee Sölle)  

Die Welt besteht aus nichts anderem mehr als aus schwarzem Fels und grauen Wassermassen. Zwischen Pfützen, Teichen, Seen, Bächen, Strömen und Regentropfen ragen bizarre, düstere Gesteinsformationen verschwommen in die schwere, feuchte Luft empor, die wie ein Schleier über allem lagert. Und mittendrin versuche ich vorwärtszukommen, klein, unsichtbar und verloren, verschluckt von den Weiten der Erde und dennoch geborgen in ihrem Schoß.   

Der Weg macht eine weite Rechtskurve und führt in ein enger werdendes Tal hinein. Ich laufe an einem Fluss entlang, der mal breit und ruhig dahinfließt oder sich gar seeartig erweitert, dann wieder in wilden Stromschnellen durch ein felsiges Bett tost oder als Wasserfall durch eine enge Spalte stürzt. Dort wo ich hinüber muss, weil die Bergwände auf meiner Seite von jetzt an ohne Uferstreifen senkrecht zum Wasser hin abfallen, ist er etwa 70 m breit und umströmt in zwei Arme geteilt eine Sandbank aus grobem Kies.

Je breiter die Furt und je verzweigter das Gewässer, desto geringer sind Tiefe und Strömung. Ich habe also gewisse Chancen, dass das Wasser nicht über die Mitte meines Oberschenkels hinausreichen wird. Jenseits dieser Höhe fängt es an, brenzlig zu werden und die Strömung könnte mich umreißen. Soweit die Theorie. Was praktisch geschieht, wenn ich da hineinlaufe, kann ich nur herausfinden, indem ich es ausprobiere. Falls das Wasser zu tief wird, kehre ich eben um.

Diesmal wechsle ich nicht in die Teva-Sandalen. Das wird zwar dazu führen, dass ich hinterher mit tropfnassen Tretern weiter stapfe, aber ich habe schon jetzt in jedem Stiefel eine riesige Pfütze und schlimmer kann es kaum noch werden. Außerdem wird es eine Weile dauern, bis ich drüben bin, und die Wanderschuhe bieten wenigstens ein bisschen Schutz vor Kälte.

Die ersten etwa fünfzehn Meter gehen problemlos. Ich arbeite mich, das Gesicht stromaufwärts gewandt, langsam vor und habe immer beide Beine oder ein Bein und den Stock sicher auf dem Boden. Dann komme ich an eine Stelle, wo das Wasser unerwartet tief wird. Da es ein paar Schritte weiter links flacher aussieht, beginne ich mich vorsichtig in diese Richtung zu bewegen. Von Nahem stellt sich die Sache leider anders dar, und ohne recht zu wissen, wie das passieren konnte, stehe ich plötzlich beinah bis zur Hüfte im Wasser und stoße mit dem Stock rings um mich herum überall ins Leere.

Ich will umkehren, doch scheint der Weg zurück genauso abgeschnitten, wie der vorwärts zur Sandbank. Meine Beine sind so kalt, dass ich sie nicht mehr spüre. Ich fühle mich wackelig und schwach. Panik steigt in mir auf. Ich merke, wie ich zittrig werde und den Kopf verliere. Ich will hier einfach nur weg, egal wie und wohin. Ich achte nicht mehr darauf, wie mein Körper zur Strömung steht und ob ich festen Halt habe. Es dauert nur ein paar Schritte, dann falle ich hin. Das Wasser schlägt mir eiskalt gegen die Brust. Reflexartig klammere ich mich an einen Stein, der da aus den Fluten ragt. Doch meine wild strampelnden Beine berühren nirgends den Grund. Die Strömung zieht an mir als wolle sie mich auseinanderreißen, und ich spüre, wie mich die Kraft verlässt.

Was folgt, geschieht einfach. Es ist nichts mehr, was ich aktiv tue. Ich bin außerhalb von Wollen und Nichtwollen. Ich schaue auf meine Hände, die in Zeitlupe an dem Stein hinabgleiten, ganz so als gehörten sie nicht mehr zu mir. Ich sehe das Tal, die Berge, den Himmel, und auf einmal werde ich innerlich ganz ruhig. Ich muss sogar lächeln. Alle Angst ist verschwunden. Da ist etwas, das meiner wartet, das mich halten und tragen und in sich aufnehmen wird. Ich muss es nur zulassen. Warum nicht hier? Warum nicht jetzt? Es ist doch gar nichts dabei. Der Stein rutscht mir aus den Fingern, Gischt spritzt mir ins Gesicht und die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Das in mir, was denken, handeln und fühlen kann, ist weit weg irgendwo über dem Fluss. Durch einen milchigen Nebel hindurch sehe ich mich selbst im Wasser treiben und finde nichts Schlimmes daran.

Dann, ganz plötzlich, durchfährt mich eine gewaltige Kraft. Es ist als würde ein Blitz das, was von oben zuguckt, einschlagen lassen in den Menschen da unten und beide wieder vereinen. Prustend gelange ich an die Oberfläche und höre mich keuchen und schreien. Ich erwache zu neuem Bewusstsein darüber, dass ich das bin, hier mitten im Wasser. Und plötzlich will ich nichts als leben! Ich denke an die Menschen, die ich liebe und die mich lieben, an meinen Alltag in Berlin, meinen Beruf, daran, was ich noch alles tun will, hier auf dieser Erde mit diesem meinem Leben, mit diesen Händen, die auf einmal wieder zu mir gehören, diesen Beinen, die sich immer noch wie zwei taube Eisklötze anfühlen, die aber plötzlich wieder strampeln können, weil in mir wieder ein Wille ist, den es verzweifelt an Land treibt.

Die Strömung drückt mich gegen einen Felsen und ich bekomme Boden unter die Füße. Es ist, als werde ich mir selbst noch einmal geschenkt, als werde ich noch einmal geboren aus diesem Fluss heraus. Ich gewinne einen sicheren Stand und taste mich so konzentriert wie möglich vorwärts. Nach ein paar Schritten reicht mir das Wasser nur noch bis zum Knie, wenig später laufe ich auf knöcheltief überspültem Kies und dann stehe ich auf der Sandbank. Sofort mache ich mich an die Überquerung des zweiten Arms, fluchtartig und vollkommen unüberlegt. Glücklicherweise wird mir das nicht zum Verhängnis, dann hier ist es seicht und flach.

Am anderen Ufer falle ich einfach um und bleibe wie betäubt liegen. Ich schließe die Augen und höre nichts als das Rauschen des Flusses und meinen Herzschlag, die versuchen einander zu übertönen. Mein Herz gibt sich irgendwann geschlagen und wird leiser und langsamer. Ich rappele mich auf. Blut tropft aus einer klaffenden Wunde an meinem rechten Schienbein. Ich bin noch immer nicht ganz bei mir. Was gerade passiert ist, ist noch nicht in mir angekommen. Ich schultere den Rucksack und laufe klitschnass weiter, als wäre nichts geschehen. Das Blut fließt an meinem Bein hinunter. Mein Kopf ist vollkommen leer. Ich spüre weder Schmerz, noch Kälte, noch Erschöpfung.

7. Juli

Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen. (Astrid Lindgren)

Schon früh am Morgen kann ich in der Ferne die Silhouetten zahlreicher anderer Menschen ausmachen. Dort muss der Kungsleden sein, der auf diesem Abschnitt wirklich eine Wander-Autobahn ist. Über jedes noch so schmale Rinnsal ist ein Bohlensteg gelegt, selbst dann, wenn man problemlos mit einem einzigen Schritt hinübersteigen könnte. Gestern hätte ich gut die eine oder andere Brücke brauchen können. Und nun, keine 20 km weiter, gibt es sie im Überfluss.

Der Hüttenwirt der Sälkastuga schüttelt mir die Hand und begrüßt mich mit einem herzlichen „Välkommen till Sälka!“ Vor der Tür zum Laden liegt ein riesengroßer Hund, aber einer von der sehr gemütlichen Sorte. Er hebt nur kurz den Kopf, legt ihn gleich wieder auf den Vorderpfoten ab und träumt mit halb geschlossenen Augen weiter. Die Proviant-Auswahl ist gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass hier alles im Winter per Schneemobil oder im Sommer mit dem Hubschrauber antransportiert werden muss.

Draußen auf der Bank ist erstmal Frühstück angesagt. Der Hüttenwirt bringt mir eine Tasse heißen Tee. Was für ein Luxus! Ich schiebe mir eine Scheibe Vollkornbrot mit Erdbeermarmelade nach der anderen in den Mund und finde das kein bisschen eintönig. Dass die Butter fehlt, stört mich nicht im Geringsten. Es sind keine 10 °C, die Sonne versteckt sich hinter grauen Wolken und der Wind pfeift mir ordentlich um die Nase. Trotzdem fühle ich mich rundum wohl. Der Hund lässt sich ungerührt das Fell von einer eisigen Böe zerzausen. Seelenruhig sieht er zu mir herüber und für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke.

8. Juli

Misstrauen ist ein Zeichen von Schwäche. (Mahatma Gandhi)

Am späten Nachmittag betrete ich den Abisko-Nationalpark. Das ist eine der wenigen Regionen in Schweden, wo wildes Zelten nur an ausgewiesenen Stellen erlaubt ist, unter anderem auf dem Gelände der Abiskojaurestuga. Der Hüttenwirt begrüßt mich freundlich und gewährt mir freie Platzwahl. Die meisten Wiesenstücke im Birkenwald ringsum sind schon besetzt. Doch nach einigem Suchen finde ich ein Fleckchen, das mir zusagt.

Beim Auspacken stelle ich fest, dass Feuchtigkeit in das kleine Säckchen mit meinen Wertsachen eingedrungen ist. Das muss wohl während meines Flussbades vor zwei Tagen passiert sein. Ein paar Briefmarken sind unrettbar zermatscht, der Rest klebt einfach nur nass zusammen. Vorsichtig ziehe ich die Geldscheine auseinander, befestige einen Packriemen im Zeltgiebel und hänge sie darüber.

Als ich später zur Toilette muss, überlege ich einen Moment lang, ob es nicht zu riskant ist, meinen ganzen Reichtum gut sichtbar für alle anderen Camper dort herumbaumeln zu lassen. Da es jenseits des Polarkreises nicht an jeder Ecke einen Bankautomaten gibt, habe ich etwas mehr Bares dabei: 120 Euro für Finnland, außerdem Schwedische Kronen im Wert von etwa 150 Euro und 2000 Norwegische Kronen, was etwas über 200 Euro entspricht. Die Scheine sind gerade so schön am Trockenen, und ich habe keine Lust, sie abzuhängen. Andererseits, knappe 500 Euro unbewacht auf der Wäscheleine? Hm…, was soll’s. Ich bin ja in Skandinavien.

Wie nicht anders zu erwarten, hängt, als ich zurückkomme, alles unangetastet an Ort und Stelle.   

9. Juli

Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann außer dir: Wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn! (Friedrich Nietzsche)

Ich bin sehr zeitig auf den Beinen, noch bevor sich irgendjemand rührt. Ich will früh in Abisko sein und den Kungsleden vorher eine Weile für mich allein haben. Tatsächlich begegnen mir erst nach etwa zwei Stunden die ersten Leute. Auf den letzten paar Kilometern ist dann wieder Volkswandern angesagt.

Der Weg führt vorwiegend durch Birkenwald, zuerst am See und dann am Fluss entlang. Vor dreieinhalb Jahren war ich hier zusammen mit Martin auf einer Winterwanderung. Damals lagen mehrere Meter Schnee über der Landschaft und alles sah ganz anders aus. Von den vielen Wasserläufe, die ich jetzt überquere, war nicht das Geringste zu erahnen, und von den Bäumen ragten nur die obersten Zweige kahl aus einer dicken, weißen Decke hervor. Es ist beeindruckend, wie stark sich diese Landschaft mit den Jahreszeiten wandelt und vor allem in welch rasantem Tempo sie es tut. Um die Osterzeit ist noch alles tief verschneit, zwei Monate später surren Hummeln auf einem bunten Blumenteppich hin und her und nach weiteren zwei Monaten hängen erste gelbe Blätter an Bäumen und Gesträuch.

Auf einer Hängebrücke hoch über einem wild rauschenden Fluss lege ich eine mückenfreie Pause ein. Ich lasse die Beine baumeln, verzehre die letzten Reste aus meinem Proviantbeutel und schaue immer wieder auf meine Füße hinab. Die Schuhe fangen an, sich von der Sohle zu lösen, und ich kann schon beinah die Zehen durch die Löcher stecken. Inzwischen braucht es noch nicht einmal zu regnen, damit ich nasse Füße habe, ein Grasbüschel voll Morgentau reicht vollkommen aus. Keine Frage, in Abisko brauche ich ganz dringend neue Wanderstiefel. 

10. Juli

Freude lebt von der Stille und von der Unbegreiflichkeit. (Dietrich Bonhoeffer)

Etwa einen Kilometer vor der Lappjordhytta beginnt es so richtig zu schütten. Aufgrund der schlechten Sicht bemerke ich den gelben Grenzstein, der Schweden von Norwegen trennt, erst spät. Er thront auf einem Felsen mitten im Tal. Darunter schimmert smaragdgrün ein kleiner See, umgeben von bizarren Gesteinsformationen, zwischen denen mächtige Dunstschwaden lagern. Es kostet mich einiges an Zeit und Kraft, den rutschigen Hang zu erklimmen. Scheinbar will Schweden mich noch nicht so recht loslassen. Abgesehen von Geländeunebenheiten gibt es jedoch nichts, was den Grenzübertritt reglementiert. Weit und breit ist kein Mensch und, abgesehen von dem gelben Stein, auch kein Zeichen von Zivilisation zu sehen. Wer hier die Grenze passiert, kümmert absolut niemanden.

Trotz des strömenden Regens stelle ich den Rucksack ab und bleibe ein paar Minuten, um Fotos zu machen und um ganz einfach diesen Moment zu genießen. Wieder einmal bin ich an einem Punkt angelangt, den jemals zu Fuß zu erreichen ich während der Planung der Tour eigentlich für unmöglich gehalten hatte. Und dennoch stehe ich jetzt hier mitten im Nirgendwo zwischen Schweden und Norwegen und unzähligen Felsen, lächele versonnen in den Nebel hinein und weiß nicht, ob das, was mir die Wangen hinunter rinnt, Freudentränen oder ganz einfach Regentropfen sind.

11. Juli

Wer frei ist, mag verrückt, dumm, abstoßend oder unglücklich sein, eben weil er frei ist, doch er ist gewiss nicht lächerlich. (Philip Roth, Das sterbende Tier)

Der Riksojohka hat eine ordentliche Strömung. Für mehr Trittsicherheit lasse ich die Schuhe an. Das Wasser reicht mir bis übers Knie. Wenn es von oben reinschwappt, bleiben die Füße natürlich auch in Hightech-Bergstiefeln nicht trocken. Und so muss ich mich in bleischweren, tropfnassen Tretern den sumpfigen Hang am gegenüberliegenden Ufer hinaufschleppen. Mein Körper kämpft um jeden Schritt, doch mein Geist blendet die Anstrengung vollkommen aus. Ich kann nicht anders, als mich ganz und gar auf den bezaubernden Anblick des Riksoriehppi-Gletschers zu konzentrieren, der sich mit jedem Meter, den ich an Höhe gewinne, herrlicher und immer herrlicher vor mir entfaltet.

Auf einem teils matschigen, teils felsigen Pfad stapfe ich durchs Láirevággi, das zu beiden Seiten von kahlen, schwarzen Bergwänden eingefasst wird. Eisreste hängen daran fest und glitzert im Sonnenschein. Darüber leuchten grell die verschneiten Gipfel. Ich befinde mich auf dem sogenannten Nordkalottleden, der sich ca. 800 km weit durch den Norden Skandinaviens zieht. In Norwegen heißt er Nordkalottruta und in Finnland Kalottireitti. In Schweden sind Teile des Weges identisch mit dem Padjelanta- und dem nördlichen Kungsleden und streckenweise relativ stark frequentiert. In Norwegen wird es deutlich einsamer und der Weg ist weniger ausgebaut.

Der Pfad mündet ins Salvvasvággi, das am Salvvasjohka entlang bis hinab in den kleinen Ort Innset führt. Der Fluss bricht sich durch einige wunderschöne kleine Canyons. Der Himmel ist noch immer sommerlich blau. Das einzige, was die paradiesische Outdoor-Idylle trübt, sind die Heerscharen von Mücken, die mich umschwirren. Solange ich in Bewegung bleibe, lassen sie mich zum Glück halbwegs in Ruhe, und nur alle paar Minuten stempelt mir doch mal ein besonders vorwitziger Blutsauger eine juckende Quaddel auf die Hand oder ins Gesicht. Pausen allerdings sind nicht drin. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die 10 km bis zur Altevashytta unten am östlichen Ortsrand von Innset in eins durch zu laufen.

Es kommt mir vor, als hätte ich Bleiklumpen an den Füßen, so schwer sind die vollgesogenen neuen Schuhe, deren klobige Kanten mir bei jedem Schritt tiefer in die aufgeweichte Haut unter den scheuernden, nassen Socken schneiden. Über Blasenpflaster denke ich gar nicht erst nach, denn wo hätte ich mit dem Kleben anfangen und wo aufhören sollen. Es fühlt sich an, als bestünden meine Füße nur noch aus rohem Fleisch. Ich bräuchte einen ganzen Blasenpflaster-Strumpf bis hinauf auf die Mitte der Wade.

Während ich fluchend über Gesteinsbrocken und Matsch humpele, höre ich hinter mir plötzlich Motorengeräusch. Ich drehe mich um und sehe ein Geländefahrzeug den Hügel hinabdonnern. Am Steuer sitzt ein Mann mittleren Alters, der freundlich lächelnd neben mir anhält und mir anbietet, mich mit hinunter nach Innset zu nehmen. Ich schlucke. Diesmal fällt es mir wirklich schwer, das Angebot abzulehnen, aber ich schüttele eisern mit dem Kopf und bedanke mich höflich.

12. Juli

 

Tapferkeit wird dadurch nicht schlechter, dass sie ein wenig schwerfällt. (George Bernard Shaw) 

Der Wald lichtet sich und wenig später stapfe ich auf kontinuierlich ansteigendem Pfad über sumpfiges Grasland. Leider scheinen sich die Mücken nicht die Bohne für die Baumgrenze zu interessieren. Erst als ich so hoch oben bin, dass jede Vegetation verschwindet und es nur noch Geröll gibt, hören sie endlich auf zu nerven.

Die Gesteinswüste erstreckt sich schier endlos bis zum Horizont und für eine kleine Ewigkeit tappe ich unsicher über wackelige Blockfelder voller zackig aufragender, instabil ineinander geschachtelter Felsen. Überall winden sich schmale Rinnsale zu Tal und vielerorts ist der Untergrund bemoost und glitschig. Erschwerend kommt hinzu, dass sich der Himmel plötzlich mit rasanter Geschwindigkeit verfinstert. Heftiger, kühler Gegenwind kommt auf und im Norden, jenseits der Berge der gegenüberliegenden Talseite beginnt es mächtig zu grummeln. Bald brechen nur noch einzelne Sonnenstrahlen durch die blauschwarze Wolkendecke. Sie erhellen die Szenerie punktuell wie Scheinwerfer die Kulisse einer effekthascherischen Hollywood-Adaptation von Dantes Inferno.

Ich bin einem Unwetter hier vollkommen schutzlos ausgeliefert. Weit und breit bin ich der höchste Punkt und habe wenig Chancen, irgendetwas daran zu ändern. Ab und an zuckt ein Blitz durch das unheimliche Zwielicht. Dann zähle ich „einundzwanzig, zweiundzwanzig…“, aber auf näher als zwei Sekunden kommt das Donnergrollen zum Glück nicht heran. Noch fällt kein Tropfen Regen. Der Wind legt sich vollständig. Ist das die berühmte Ruhe vor dem Sturm?

Mal wieder fühle ich mich entsetzlich klein und irgendwann auch vollkommen erschöpft und schwach. Eine Mischung aus Hunger und Übelkeit rumort in meinem Bauch und bei jedem Schritt durchfährt mich ein Zittern, das ich nur schwer unterdrücken kann. Ob es nun ratsam ist, hier zu rasten oder nicht, mir bleibt nichts anderes übrig, denn meine Beine klappen einfach unter mir zusammen, als wären sie aus Gummi. Ich lasse mich auf den Boden fallen, fingere mit kraftlosen Händen meinen Rucksack auf und stopfe mir eine Hand voll Rosinen in den Mund. Dann versuche ich mich zu entspannen und merke, wie ich allmählich ruhiger werde. 

13. Juli

Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben. (Marc Aurel)

Der Pfad wendet sich nach Osten einen Hang hinauf. Die Kiefern werden durch Birken abgelöst, die mit jedem Höhenmeter kleiner und verwachsener aussehen, und schließlich befinde ich mich wieder oberhalb der Baumgrenze. Die Hütte lasse ich links liegen. Bei so herrlichem Wetter will ich draußen schlafen, und zwar so weit oben wie möglich mit der Chance auf einen mückenarmen Abend.

Das letzte Stück steigt fast senkrecht an. Der Rucksack zieht mich mächtig nach hinten, und wieder einmal heißt es klettern statt wandern. Umso überraschter bin ich, oben ein älteres Ehepaar zu treffen. Beide haben gewiss die siebzig überschritten, wirken aber mit ihren wettergegerbten Gesichtern und drahtigen Körpern sehr rüstig. Sie wohnen in einem Dorf namens Frihetsli, das „nur“ 13 km entfernt sei, und machen einen "kleinen Abendspaziergang". Wow! Wenn alle Rentner täglich oder wenigstens wöchentlich solche Abendspaziergänge machen würden, könnte ich als Arzt wahrscheinlich einpacken. Beeindruckt sehe ich den beiden nach, wie sie sich behände und schnell den steilen Hang hinab bewegen und im Wald verschwinden.

14. Juli

Wie kann wieder ein Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch hergestellt werden? Mit der Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und im bewussten Wahrnehmen der Schönheit unserer Welt. (Gregor Sieböck, Der Weltenwanderer)

Schluss mit über den Wolken, jetzt bin ich mitten darin. Es ist trüb und diesig und vom Dividalen ist nichts mehr zu sehen. Im Gegensatz zu gestern Abend regt sich kein Lüftchen. Alles fühlt sich klamm und feuchtigkeitsschwer an, ohne dass es tatsächlich regnet. Ich laufe über sanft hügeliges Grasland. Abgesehen von meinen schmatzenden Tritten auf der sumpfigen Erde ist es vollkommen still.

Auf einem Hügelkamm kann ich undeutlich die Silhouetten einiger Rentiere ausmachen. Als ich näherkomme, tauchen immer mehr Geweihe aus dem Dunst auf, und schließlich starren mich um die 200 goldbraun schimmernde Augenpaare angstvoll an. Das übliche Spielchen: Solange ich stehen bleibe, bleiben auch die Rentiere stehen. Sobald ich mich in Bewegung setze, verstreuen sie sich blitzartig in alle Himmelsrichtungen.

Rentiere sind sehr scheu und verhalten sich eigentlich immer defensiv. Ich glaube gerade das macht einen Großteil ihrer Anmut aus. Es sind ganz erstaunliche Geschöpfe, die mit den extremen Bedingungen der Arktis zurechtkommen, ohne Aufhebens von sich zu machen. 

15. Juli

Mensch: das einzige Lebewesen, das erröten kann. Es ist aber auch das einzige, was Grund dazu hat. (Mark Twain)

Mein Weg führt mich über eine Hochfläche. Es ist weit bis ins nächste Tal. Ich mühe mich Schritt für Schritt über einen unermesslichen Steinhaufen hinweg. Kilometerweit kein Bisschen Erde, nicht ein einziger Grashalm. Die Wolken hängen tief und jenseits von ein paar Armeslängen verschwindet alles in einem milchigen Dunst. Für eineinhalb Stunden ist die Welt nichts als ein Felsenmeer, das ich kleiner Zwerg zu überqueren versuche.

Ich halte unseren Anthropozentrismus für ein absolut verfehltes Weltbild. Wir Menschen sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern verletzliche Kreaturen, die ums Überleben kämpfen, wie alle anderen Wesen auch. Wir unterscheiden uns von ihnen allein dadurch, dass wir unseren Kampf mit Mitteln führen, die uns früher oder später unserer Lebensgrundlage komplett berauben werden. Unser Verhalten ist alles andere als ein Gütekriterium, das es rechtfertigen könnte, unseren Wert höher zu bemessen als den von Tieren und Pflanzen. Im Gegenteil, es ist Ausdruck himmelschreiender Dummheit oder schlimmer noch kurzsichtiger Ignoranz.

Hartnäckig führen wir den Irrglauben an einen Vorrang der Menschheit zur Verteidigung unserer Gier nach Überfluss ins Feld. Doch in Wahrheit gibt es nichts, was unser Verhalten entschuldigen könnte. Solange wir unseren überbordenden Lebensstil weiter pflegen, sind wir verantwortlich für das Leiden und Sterben unzähliger menschlicher und nichtmenschlicher Geschöpfe. Davon spricht uns nichts und niemand frei – kein Elektroauto, kein Ökostrom und auch kein neuer Grenzwert für Abgase. 

16. Juli

Meiner Ansicht nach ist das Geheimnis des Lebens überhaupt, die Dinge sehr, sehr leicht zu nehmen. (Oscar Wilde)

Schon beim Wechsel von den Nacht- in die Wanderklamotten ziehe ich mir vorsorglich die Regenhose über. Rund ums Zelt mückt es mächtig, doch ab und an fegt eine Böe über die Ebene hinweg und ich habe einen Augenblick meine Ruhe. Während einer solchen Gelegenheit putze ich mir die Zähne und muss feststellen, dass es nicht unbedingt günstig ist, Zahnpasta gegen den Wind zu spucken. Nach 251 Mal Outdoor-Zähneputzen in Folge dürfte das eigentlich keine neue Erkenntnis mehr sein, aber man lernt eben nie aus. Ich verlasse meinen Schlafplatz in weißgesprenkeltem Zustand. Doch da ich meine Regenkluft anhabe und es bald nach meinem Aufbruch zu nieseln beginnt, beseitigt sich das Malheur sozusagen von ganz allein.

17. Juli

Bejahe den Tag, wie er dir geschenkt wird. (Antoine de Saint-Exupéry)

Der Verkehr auf der E8 ist im Vergleich zu dem, was ich in den letzten paar Wochen an Autos gesehen habe, nämlich so gut wie nichts, ziemlich beachtlich. Zum Glück gibt es einen breiten Randstreifen, und ich erreiche gefahrlos und ohne angehupt zu werden schon gegen zwölf Uhr den Campingplatz.

Das Gelände versprüht den Charme einer Transitstrecken-Raststätte der frühen achtziger Jahre. Schon Schweden wirkt ja manchmal ein bisschen realsozialistisch, wie DDR nur mit Wohlstand. Wem das noch nicht reicht, der sollte unbedingt mal nach Finnland fahren.

Finnland gehört bereits zur osteuropäischen Zeitzone, das heißt, es ist eine Stunde später als bei uns. Ich müsste meine Uhr also eigentlich 60 Minuten vorstellen. Da ich jedoch in einigen Tagen zurück in Norwegen sein werde und die tatsächliche Uhrzeit auf dieser Reise keine große Rolle für mich spielt, lasse ich es bleiben.

Das Sanitärgebäude ist stark renovierungsbedürftig, und sogar in der Sammelbrause gibt es Mücken. Einzige Rettung: Wasser auf volle Pulle.

Ich buche die Waschmaschine für 16 Uhr, nach meiner Zeit 15 Uhr. Das sind noch zwei Stunden, also nichts wie los zum Einkaufen. Mein Magen hängt mir schon in den Kniekehlen.

Die wenigen Häuser längs der E8 liegen rasch hinter mir, aber einen Supermarkt finde ich nicht. Also gehe ich zurück zur Rezeption und frage nach. Eine freundlich lächelnde Dame teilt mir mit, dass der Laden in einem anderen Ortsteil liege, 5 km weiter direkt an der Straße. Fünf Kilometer! Ich schlucke und fühle meinen Magen in die Zehenspitzen rutschen. Klipisjärvi hat nur etwas über 100 Einwohner. Dass sich sowas in zwei Teile teilen kann, damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich verschiebe meine Waschaktion auf 18 beziehungsweise 17 Uhr und kaufe mir an der Theke des Campingplatzrestaurants Kuchen und Eis gleich auf die Hand. Nachdem ich im Gehen einen Schokomuffin verdrückt habe, bessert sich meine Laune schlagartig. Ein kleiner Nachmittagsspaziergang von 10 km, na und? Die Sonne scheint, und es könnte schlimmer kommen. Als ich feststelle, dass es sich bei dem Eis, das ich mir blind aus der Truhe gegriffen habe, einfach weil es das Größte war, ausgerechnet um Lakritzeis handelt, muss ich laut loslachen. Ich mag kein Lakritzeis! Aber was soll’s, ich würge es tapfer hinunter. Kalorien sind es ja trotzdem und das ist alles, was zählt.