Mit überflüssigem Reichtum kann man nur Überflüssiges kaufen. Um den Erfordernissen der Seele gerecht zu werden, braucht man kein Geld. (Thoreau, Walden)
Der Start in den Tag fällt schwer. Mein Frühstück ist nicht gerade üppig – ein paar Brotreste und Haferkekse, beides schon ziemlich zerkrümelt, und eine kleine Ecke Schmelzkäse, dazu Wasser aus dem See. Es sind noch 20 km bis zum Supermarkt in Mullsjö. Bis dahin muss ich mit zwei Schokoriegeln und einer Hand voll Nüssen auskommen.
Eine tiefhängende, eintönige Wolkenschicht taucht alles in ein trübes Grau. Ich kann kaum glauben, dass das derselbe Ort ist, der mich gestern Abend so bezaubert hat. „Plopp, plopp, plopp…“, erste schwere Tropfen prasseln auf das Dach des vindskydds. Es macht den Anschein, als wolle es sich so richtig einregnen. Ich möchte da nicht raus. Am liebsten würde ich einfach wieder in den Schlafsack kriechen, aber es hilft nichts. Ich muss heute nach Mullsjö, denn ich brauche etwas zu essen.
Zum Glück klart es nach den ersten paar Kilometern auf und bleibt den ganzen Vormittag sonnig und mild. Der Södra Vätterleden führt durch Kiefernwald. Hier und da glitzern Seen zwischen den Stämmen hindurch. Es sieht mal wieder aus wie im Berliner Umland – 665 km und immer noch alles wie zu Hause.
Die Grenze zwischen Småland und der Provinz Västergötland ist am Wanderweg markiert. Ich mache es mir gemütlich und esse meinen restlichen Proviant mit einem Bein noch in Småland und mit dem anderen schon in Västergötland. Nie zuvor bin ich so lange am Stück gewandert – 665 km! Ich bin ein bisschen stolz auf diesen Erfolg. Zwar stehen mir noch 2670 km bevor, viermal so viel wie ich jetzt schon in den Sohlen habe, aber ich lasse mich nicht entmutigen. Was zählt ist der Augenblick, der Rest wird sich finden. Heute muss ich nur nach Mullsjö und noch ein kleines Stück weiter, bis zu einem geeigneten Schlafplatz. Mein Leben wird viel einfacher, wenn ich nicht ständig über den gegenwärtigen Tag hinausdenke.
Kurz vor Mullsjö verlasse ich den Södra Vätterleden, um erst hinter der Stadt wieder darauf zu stoßen. Das bedeutet ein Stück stark befahrene Straße, spart aber einige Kilometer. Der Himmel hat sich verdüstert und schon bald beginnt es zu regnen. Mir bleibt nichts Anderes übrig, als mich vor den spritzend vorbeidonnernden LKWs in den zugemüllten Graben zu flüchten. Ich fühle mich ganz schön schäbig und abgestürzt. „Mann, Alter“, geht es mir durch den Kopf, „du bist Arzt und verdienst reichlich Kohle. Du könntest da oben in einem schicken Wagen an dir selbst vorbeidüsen und übermorgen am Nordkap sein.“ Dann fällt mir der Sonnenuntergang von gestern Abend wieder ein. Ich denke an die Rufe der Wildgänse und all die Freuden meines ungebundenen Nomadendaseins. Nein, ich will kein Auto. Ich will keinen Luxus und keinen Komfort. Obwohl ich hier unten durch Matsch und Abfall wate, bin ich reicher als je zuvor in meinem Leben. Ist das nicht eine wundervolle Erfahrung!
Kraft und Kühnheit der Landschaft spiegelten sich in mir wider. Die Wege, die ich mir bahnte, führten hinaus in die Berge und Sümpfe, aber ebenso führten sie nach innen. Ich erforschte die einfachsten Dinge um mich herum, las viel, dachte über das Gelesene nach und gelangte so zu einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit mir und der Landschaft. Mit der Zeit verschmolz beides zu einer Einheit. (John Haynes)
Der Rucksack fühlt sich schwer an, und ich komme nur schleppend in Gang. Kein Wunder, das Zelt ist nass und ich habe ordentlich Proviant geladen. Es geht auf schmalen Pfaden über teils felsigen, teils sumpfigen Untergrund beständig auf und ab. Unterm Strich allerdings mehr auf, denn nach etwa einer Stunde stehe ich auf einer wunderschönen Hochebene, die verblüffende Ähnlichkeit mit der Landschaft im Harz rund um den Brocken hat. Ich setzte mich für eine kurze Verschnaufpause auf einen Stein am Weg. Der Himmel ist voller Nebeldunst, weit gucken kann ich nicht. Das trübe Wetter sorgt für eine geheimnisvolle Stimmung. Der Boden ist mit Heidekraut und Inseln von beigem Gras bedeckt, bizarr geformte, bemooste Felsen liegen herum, einzelne Baumgerippe ragen ein paar Meter hoch auf und die kahlen Äste verschwinden zwischen tiefhängenden Wolkenfetzen. Es sieht aus, als hätten hier gestern noch die Hexen getanzt, aber Walpurgisnacht ist erst in zwei Wochen.
Und es ist so still, so still wie die Welt vor der Erfindung des Verbrennungsmotors gewesen sein muss. Meer und Wind bilden den Hintergrund für das Bellen der Seelöwen und die klagenden Schreie der Möwen. Manchmal, wenn sie allein hier draußen ist, kann sie den Puls von etwas Größerem spüren, als wäre alles Belebte im Einklang miteinander, und dann überkommt sie ein so herrliches Gefühl der Verbundenheit, dass sie aus sich selbst, aus ihrem Bewusstsein heraustritt und nichts mehr einen Namen hat, weder in Latein noch in Englisch oder irgendeiner anderen Sprache. (T.C. Boyle, Wenn das Schlachten vorbei ist)
Bis in die frühen Morgenstunden höre ich dicke Tropfen auf das Dach des vindskydds prasseln. Es sieht so trüb aus, dass es gar nicht recht hell werden will. Ich schöpfe Wasser aus dem Bach, frühstücke und schaue in den milchigen Dunst hinaus. Ringsum herrscht absolute Stille. Bei dem Wetter schlafen wohl auch die Vögel lieber länger.
Trotz des grauen Himmels ist die Landschaft wunderschön. Es geht auf verschlungenen Pfaden durch überwiegend mit Kiefern bewachsene hügelige Heidelandschaft und an stillen klaren Waldseen entlang. Die Welt scheint unter der tiefhängenden Wolkendecke wie erstarrt. Weder die Zweige der Bäume noch das Wasser regen sich. Über allem liegt eine entrückte verzauberte Stimmung. Ab und zu geht ein kräftiger Schauer nieder. Inzwischen habe ich gelernt, so etwas gelassen hinzunehmen und kann, auch während mir das Wasser in den Jackenkragen läuft, noch lächelnd vor mich hin wandern. Die Natur zeigt bei jedem Wetter ein anderes Gesicht, aber langweilig oder abstoßend ist sie nie.
Ist nicht mein Wunsch, dass diese Schöpfung bleibt viel größer als mein Wunsch, dass ich bleibe? (Dorothee Sölle)
Immer wenn ich mich länger in der Natur aufhalte, werde ich viel ruhiger und gelassener, als ich es normalerweise bin. Anders als in sozialen oder beruflichen Alltagskontexten wäre es vollkommen unvernünftig, irgendetwas, was hier draußen geschieht, als persönlichen Angriff, Kränkung oder Beleidigung zu werten. Ein Unwetter hat nicht die Intention mir zu schaden. Es ist einfach da und beachtet mich gar nicht. Ich erlebe mich als kleinen, machtlosen Spielball höherer Gewalten, die etwas Größeres am Leben erhalten als mein kleines Ich. Ich bin nicht unmittelbar gemeint, sondern nur mittelbar als Teil des Ökosystems Erde. Ich lerne, mich selbst weniger wichtig zu nehmen. Ein mir unbegreifliches Wunder, das schon lange vor mir war und noch lange nach mir sein wird, hat mich aus der Ewigkeit hervorgelockt und wird mich dorthin zurückführen, wenn die Zeit gekommen ist.
Wir sind in dem Maße Fremdlinge in der Natur wie wir uns von Gott entfremden. Ist die Landschaft, von der ein jeder Schimmer voller Erhabenheit ist, nicht sein Antlitz? (R.W. Emerson)
Gegen Abend gelange ich an einen vindskydd. Der Himmel klart auf und bald schon ist es nahezu wolkenlos. Ich blicke auf eine Lichtung mit vielen knorrigen alten Bäumen. Dazwischen steht ein völlig verfallenes rotes Holzhaus, neben dem sich der vorbeiströmende Bach zu einem großen Teich verbreitert. Ich will meine Trinkflaschen füllen, doch ist es gar nicht so leicht, bis zum Wasser vorzudringen. Der dichte Schilfgürtel ist nur an wenigen Stellen unterbrochen und das Ufer insgesamt sehr sumpfig. Während ich mit matschigen Händen und Schuhen wackelig auf einem großen Stein stehe und mich ungelenk zur Wasseroberfläche hinunterbeuge, sehe ich gegenüber einen Kranich majestätisch umher staksen. Wie elegant – erst recht im Gegensatz zu mir.
Was da in meine Flasche fließt, ist eine braune Brühe, die modrig riecht und bitter schmeckt. Ich spucke reflexartig alles in hohem Bogen aus und wäre dabei fast von meinem Stein gepurzelt. Zwei Schwäne sind aus dem Schilf heraus in die Mitte des Teiches geschwommen und sehen mir zu, – oder ich ihnen? Wie dem auch sei, sie liefern jedenfalls die weitaus würdigere Vorstellung ab. Anmutig schwimmen sie im Kreis, umeinander herum und abwechselnd aufeinander zu und wieder voneinander weg, ganz so als tanzten sie. Es ist wunderschön anzusehen, wie die prächtigen schneeweißen Tiere auf der blanken Oberfläche, in der sich der strahlend blaue Himmel spiegelt, völlig geräuschlos dahingleiten.
Trotz meiner unbequemen und etwas riskanten Position, richte ich mich vorsichtig auf, ziehe das Handy aus der Hosentasche und beginne, bedenklich hin und her schwankend, die Szene zu fotografieren. Ich will diesen zauberhaften Augenblick unbedingt festhalten, obwohl das natürlich gar nicht wirklich möglich ist. Die Schwäne tanzen weiter und weiter und ich kann mich gar nicht satt sehen. Es gibt so viel Schönheit zu entdecken auf dieser wunderbaren Welt, man muss sich nur hinausbegeben und die Augen offenhalten, dann begegnet man ihr ganz von selbst.
Es wird bestimmt für die Insekten wie für die Sterne. Menschen, Pflanzen oder kosmischer Staub, wir tanzen alle nach einer bestimmten Melodie, die aus der Ferne von einem unsichtbaren Pfeifer angestimmt wird. (Albert Einstein)
Ich bin am Vättern! Das ist zwar immer noch weit im Süden Schwedens, aber trotzdem sind die großen Seen ein wichtiger Meilenstein auf meiner Tour. Bei der Planung war ich mir alles andere als sicher, dass ich überhaupt so weit kommen würde. Beschwingt trabe ich den Abhang bis zum vindskydd hinab. Das war ein langer Tag. Meine erste 30-km-Etappe! So also fühlt sich das an.
Ebenso wie der Himmel erglänzt auch der Bottensjön in einem unwirklich tiefen und knalligen Blau, das nach und nach immer blasser wird. Im Abendlicht schimmert alles in grellem Orange. Mit fortschreitender Dämmerung wird daraus allmählich, über unzählige Schattierungen ein fahles Rosa, und schließlich ist es Nacht. Auf den Wellen zeichnet sich beeindruckend scharf das sanft wippende Spiegelbild des Vollmondes ab.
Ich glaube, die Schönheit der Schöpfung ist Nichts, woran ich mich je sattsehen kann. Ein Geheimnis ruht in ihr, das wir nie ganz begreifen werden und das uns immer wieder überrascht. Vielleicht ist es das, was diese Welt, die uns geschaffen hat, unterscheidet von allem Menschengemachtem, das wir geschaffen haben.
Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen. (Astrid Lindgren)
Die Strahlen der Morgensonne kitzeln mir im Gesicht, und ich schlage die Augen auf. Die hohen schlanken Stämme der Kiefern ringsum werfen ein Muster aus länglichen Schatten auf den Waldboden. Zwischen den Baumkronen scheint in mildem Azur der Himmel hindurch. Ein neuer, warmer Frühlingstag beginnt! Bei solchen Temperaturen muss ich die Butter, die ich gestern gekauft habe, rasch verbrauchen. Also schmiere ich sie mir fast fingerdick aufs Frühstücksbrot – ausreichend Hunger habe ich allemal.
Auf sumpfigen, schlecht befestigten Pfaden geht es steil bergauf. Dann gelange ich über einen Forstweg aus dem Wald hinaus aufs Feld. Ab und zu stoße ich auf Schilder, die darauf hinweisen, dass ich mich immer noch im militärischen Übungsgebiet befinde. Es gibt aber keinerlei Zäune oder Infotafeln, die über Verhaltensregeln aufklären. Ich verstehe nicht ganz, wie das gemeint ist. Bin ich unversehens doch irgendwo gelandet, wo ich nicht sein soll? In Deutschland wäre so ein Gelände abgesperrt, und hier führt der Wanderweg mitten hindurch. Die Bauernhöfe, an denen ich vorbeikomme, sehen allesamt aus, als ob schon ewig niemand mehr darin wohnt. Es fühlt sich an, als sei ich seit langer Zeit der erste Mensch, der ein vollkommen entvölkertes Gebiet betritt. Ich überlege, ob die Häuser vielleicht nur als Kulisse für militärische Übungen dienen. Womöglich tauchen hinter irgendeinem verfallenen Mäuerchen gleich ein paar Gewehrläufe auf, und dahinter freundlich grüßende Soldaten: „Kein Problem, gehen sie einfach weiter, wir schießen drum herum.“ Das wäre irgendwie typisch Schweden. Hier ist man als Wanderer einfach überall willkommen!
Jenseits des Übungsgeländes führt mich der Västra Vätterleden weiter bis nach Forsvik, einem kleinen Ort am Götakanal. Zwar weiß ich, dass es noch ein bisschen dauert, bis das erste Rentier auftaucht, aber trotzdem kommt es mir vor, als würde ich mit der Überquerung des Kanals eine wichtige Linie überschreiten und von nun an geradewegs auf die unermesslichen Weiten des Fjälls zusteuern. Naja, irgendwie muss ich mir ja Mut machen. Ohne eine Portion gesunden Optimismus verfeinert mit einem Hauch leicht pathologischer Tatsachenverkennung ist so eine lange Tour nicht zu schaffen.
Forsvik hatte im 19. Jahrhundert bedeutende Industrie. Heute lebt man hier eher vom Tourismus. Es gibt noch zahlreiche alte Gebäude, Mühlen, Schmieden, Sägewerke und auch ein Museum. Klar, dass bei dem schönen Wetter reichlich Leute unterwegs sind – mal eine Abwechslung zu den einsamen Waldwegen. Ich besichtige zwar nichts, denn mir ist nicht danach und ich wüsste auch nicht, wohin mit meinem Rucksack, aber ich lasse die Atmosphäre des hübschen Städtchens auf mich wirken.
Plötzlich spricht mich eine alte Frau an. Sie ist super freundlich und lächelt auffallend offen und herzlich. Ich sage ihr, dass ich leider kaum Schwedisch könne, aber sie redet unbeirrbar weiter. Ich sei ihr wegen meines großen Rucksacks aufgefallen, das müsse wohl eine sehr lange Wanderung sein, die ich da mache. Es gelingt mir, ihr in einem Kauderwelsch aus Deutsch, Englisch und Schwedisch zu erklären, wo ich herkomme und wo ich hin will. Sie ist begeistert und ohne einander im strengen Sinne zu verstehen, unterhalten wir uns eine ganze Weile. Sie sagt, sie möge Menschen, die verrückte Dinge tun. Ich beschließe, das als Kompliment zu nehmen.