23. Juni

Meine Hoffnung und meine Freude
Meine Stärke, mein Licht
Christus meine Zuversicht
Auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht.                  (Taizé-Gesang)

Morgens stehen ein paar waschbrettartige flockige Wolkenfelder an einem ansonsten klaren Sommerhimmel. Solche Formationen deuten manchmal auf ein abendliches Gewitter hin. Zum Glück gibt es in 25 km Entfernung eine Schutzhütte. Ich habe also im Falle eines Unwetters gute Chancen auf einen Unterschlupf. Fürs erste jedoch laufe ich in den Sonnenschein hinein. Der rotbraun leuchtende Boden steht in wunderschönem Kontrast zum Blau des Himmels. In der Ferne erhebt sich der eine oder andere schwarz-weiße Bergriese und in den Senken glänzen Seen und Bäche.

Bald erreiche ich die Grenze zwischen Västerbotten und Norrbotten, der nördlichsten Provinz Schwedens – riesengroß und weitgehend menschenleer: ein Viertel des schwedischen Staatsgebietes, und dennoch leben hier weniger als 3% der Bevölkerung.   

Unter mir liegt ein weites Tal und darin eine Kette ausladend gewundener Seen. Überall von den Hängen strömt Wasser herab. Den Vuoruojuhka überquere ich auf einer wenig vertrauenerweckenden, rostigen Metallkonstruktion. Sie schlingert und quietscht bei jedem Schritt und ich fühle mich nur unwesentlich wohler, als wenn ich mit beiden Beinen da unten im Fluss stehen müsste. Bald darauf folgt eine zweite, etwas weniger altersschwache Hängebrücke, die mich über den mit etwa 50 m schon recht beeindruckenden Bádasjuhka trägt.

Der Pfad entfernt sich vom Ufer und windet sich weithin sichtbar um flache Hügel herum, an einzelnstehenden Birken vorbei und an kleinen Seen entlang. Es ist schwülwarm, und weißlich graue Luftmassen ballen sich zu immer größer und dunkler werdenden Wolken zusammen, zwischen denen die Sonne mit erstaunlicher Kraft scheinwerferartig einzelne Strahlen hindurchschickt. Das sieht tatsächlich nach Gewitter aus.

24. Juni

Falls Gott die Welt geschaffen hat, war seine Hauptsorge sicher nicht, sie so zu machen, dass wir sie verstehen können. (Albert Einstein)

Jenseits des Ortes betrete ich den Pieljekaise-Nationalpark, der bereits 1909 eingerichtet wurde. Damit ist er, wie eine Infotafel stolz verkündet, einer der ersten Nationalparks weltweit. Er dient dem Erhalt des für diese Region typischen urwaldartigen Birkenwaldes. Das glaube ich sofort. 4 km, 8 km, 12 km und immer noch kein Anstieg und keine Baumgrenze in Sicht. Das grüne Dickicht überragt mich meterhoch. Ringsum nichts als dichtes Blattwerk, hin und wieder etwas Sumpf und ein paar Felsbrocken, über die ich irgendwie hinweg turnen muss. Mein Gesicht ist durch das Moskitonetz geschützt, aber an meinen Händen machen sich die kleinen Biester ordentlich zu schaffen. Es ist brütend heiß und vollkommen windstill, die Luft ist schwül und stickig.

Auf einer Lichtung lasse ich mich erschöpft ins Gras fallen, schütte mir Wasser in den Mund und stopfe Chips hinterher. Alles unter möglichst kurzzeitigem Lupfen meines Mückenschutzes.

Nassgekleckert und vollgekrümelt schlage ich mich weiter durchs Gestrüpp, bis endlich, endlich, endlich die Pieljekaisestuga auftaucht. Ich hätte sie um ein Haar übersehen, denn sie steht da wie in den Wald hineingewachsen, beinah so als wäre sie mit ihm verschmolzen. Dankbar nutze ich die Gelegenheit für eine mückenfreie Pause.

Es ist nicht mehr weit bis hinauf in die Berge, höchstens 2 km. Dort dürfte es deutlich weniger Mücken geben, und ich werde mein Nachtlager aufschlagen können. Vorher aber will ich versuchen, mich im Bach zu waschen, wer weiß ob ich weiter oben Wasser finde. Ich ziehe mich aus und renne, nur mit Seife und Handtuch bewaffnet, nach draußen. Wenn ich ganz schnell bin, so hoffe ich, werden mich die Mücken vielleicht übersehen. Doch weit gefehlt, offenbar haben sie nur darauf gewartet, dass ihre Mahlzeit die Hütte verlässt. Da ich nichts anhabe, ist der Tisch für sie nur umso üppiger gedeckt. Sie wissen sich vor Freude kaum zu lassen und stürzen sich regelrecht auf mich. Ich hocke mich in den Bach und klatsche mir mit der einen Hand das eiskalte Wasser auf Brust und Gesicht. Die andere strecke ich nach hinten aus und wedele propellerartig vor meinem Rücken mit dem Handtuch herum. Hoffentlich gibt es hier keine versteckte Kamera! Mehr oder weniger sauber renne ich zurück zur Hütte. Unter hygienischen Aspekten war dieses „Bad“ vermutlich verzichtbar, aber was soll’s, ich schlüpfe ja sowieso wieder in dieselben verschwitzten Klamotten.

25. Juni

Es gibt im Grunde nur ein Problem in der Welt: Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling? (Thomas Mann)

Glücklicherweise führt der Weg noch eine ganze Weile übers offene Fjäll – völlig mückenfrei. Auch weiter unten im Wald ist es längst nicht so schlimm wie gestern. Wald scheint für die kleinen Blutsauger also nicht gleich Wald zu sein. Ich komme an einen tosenden Wildbach. Ringsum blüht eine hohe Wiese voller bunter Sommerblumen, kaum zu glauben diese Pflanzenpracht so kurz vorm Polarkreis. Kurz darauf tauchen zwischen den Stämmen Häuser auf und ich erreiche den kleinen Ort Jäkkvik am Hornavan, dem mit 221 m tiefsten See Schwedens.

Eine Brücke führt mich auf die Insel Jäggesuolo hinüber. Hier dominieren Kiefern statt Birken, und erstaunlicherweise gibt es überhaupt keine Mücken. Ob sich die Biester im Nadelwald weniger gerne aufhalten oder ob sie die etwa 400 Inseln im tiefsten See Schwedens grundsätzlich meiden? Ich beschließe jedenfalls die Gunst der Stunde zu nutzen und mache es mir für eine Mittagsrast auf einem großen Stein am Wegesrand bequem.

Nachdem ich die ersten Schokokekse verschlungen habe, höre ich es lautstark kläffen. Wenn schon keine Mücken, dann wenigstens Hunde. Aber die zwei Gesellen, die da den Pfad entlang getrippelt kommen, sind nur unwesentlich größer als Zwergkaninchen und haben beim besten Willen nichts Furchterregendes an sich. Es amüsiert mich eher wie sie ganz aufgeregt und in den höchsten Tönen bellend um mich herumspringen. Ihnen folgt eine Joggerin, die sich sehr wortreich entschuldigt. Die Hunde hätten mich gewiss für einen Bären gehalten. Ich fasse mir unwillkürlich ins Gesicht. Ist mein Bart wirklich schon so lang?

Während wir uns unterhalten, versuchen die zwei Sofarollen hartnäckig, mir meine Schokokekse streitig zu machen. Ich erkundige mich nach den Mücken. Es sei ganz ungewöhnlich, dass es noch keine gäbe, meint die Frau, denn normalerweise könne man sich im Sommer hier kaum aufhalten. Also liegt es nicht an den Nadelbäumen und auch nicht an der Tiefe des Sees; ich habe einfach „nur“ Glück.

26. Juni

Wir laufen zum Fluss und gehen dann auf dem Wasser! Das kann man, man kann alles, was man will. (Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf)

Gegen Mittag taucht ein Holzschildchen am Wegesrand auf. Es ist so unscheinbar, windschief und verwittert, dass ich es kaum wahrnehme. Erst als ich schon beinah daran vorbeigelaufen bin, habe ich den Impuls, mich umzudrehen und zu schauen, was darauf steht, – und Tatsache: Ich bin am Polarkreis!

Ich spüre, wie unter dem Moskitonetz Tränen meine Wangen hinablaufen. Der Ort lädt mit all den Mücken und der brütenden Hitze nicht gerade zum Verweilen ein, dennoch nehme ich mir einen Augenblick Zeit, um mich zu besinnen. Von Berlin bis zum Polarkreis – 2260 km! Jeder meiner kleinen Schritte, und wenn er mir einzeln noch so vergeblich erschienen war, hatte einen Nutzen. Ich spüre, wie das Bewusstsein dieser Erkenntnis tief in mich dringt. Ich will die Klarheit, die mich hier und jetzt so kraftvoll umhüllt, in meinem Herzen wahren und auf keinen Fall jemals wieder vergessen, was ich plötzlich ganz sicher weiß: Ich kann etwas bewirken! Wenn ich etwas erreichen will, dann zählt jeder Schritt. Solange ich einfach immer weitergehe, gibt es keinen Grund, den Mut zu verlieren. 

27. Juni

Allein Gott ist der Herr der Erde und er hat niemandem irgendwelche Besitztitel übertragen. Wir sind Gäste auf Zeit, Mieter und einfache Hüter der Erde, die die Aufgabe haben, sie zu dem zu machen, was sie einst war: zum Garten Eden. (Leonardo Boff)

 

Es dringen nur vereinzelt Sonnenstrahlen durch eine weißgraue Wolkenschicht. Nach und nach tritt ein See in den Blick. Himmel und Wasseroberfläche haben im trüben Licht des heutigen Tages beinah dieselbe Farbe, ein metallisches Graublau, das stufenlos in das matte Dunkelgrün der Ufer, unzähligen kleinen Inseln und umgebenden Hügel übergeht.

Der Pfad führt zunächst sanft und dann immer steiler bergab. Ständig trete ich auf wacklige Gesteinsbrocke oder rutschiges Geröll und muss mich ziemlich auf meine Schritte konzentrieren, um nicht zu stürzen. Schon bald zeigen sich einzelne Birken und wenig später stehe ich wieder mitten im Blätterdickicht. Der Boden zwischen den Bäumen ist von Schwedischem Hartriegel übersäht, der jetzt zu blühen begonnen hat. In Deutschland ist diese Pflanze vom Aussterben bedroht. Hier im Fjäll ist sie ein alltäglicher Anblick. Auf Waldlichtungen, Heide- und Moorlandschaft bedeckt sie den Boden wie ein Teppich. Die Stängelblätter sind grün und die Blütenblätter weiß, beide sind kreuzständig und eiförmig, und in der Mitte sitzen klitzekleine, schwarze Blüten.

Im Tal angelangt, komme ich auf eine von hohen Fichten umrahmte, weite, moorige Lichtung. Die wattebauschartigen Köpfchen des Wollgrases leuchten unter dem verhangenen Himmel besonders schön – als habe jemand einen Haufen Sterne auf der Wiese ausgeschüttet.

28. Juni

Man braucht nicht viel Besonderes zu sehen, man sieht so schon viel. (Robert Walser, Kleine Wanderung)

Die weißglänzenden Gipfel des Pårte- und Tarrekaise-Massivs spiegeln sich, zusammen mit den bauschigen Wolken am blauen Himmel, so exakt auf der Wasseroberfläche des Sees, dass der einzige Unterschied zwischen Abbild und Wirklichkeit dadurch zustande kommt, dass das sich nähernde Boot ein paar Wellen aufwirft.

Björn, der Bootsmann, ist, anders als sein Kollege neulich am Riebnes, durchaus gesprächig und erzählt uns Einiges über die Umgebung. In Kvikkjokk stürzt sich der Gamajåhkå von den Bergen herab und bildet ein paar beeindruckende Stromschnellen, bevor er sich im seichten Wasser der sumpfigen Delta-Landschaft, auf der wir gerade herumschippern, verliert. Björn fährt bis ganz nah an die tosenden Fluten heran und dreht erst im letzten Moment scharf bei. Das macht er vermutlich nicht mit jedem Fahrgast, denn ein kleiner Nervenkitzel ist schon dabei und einen kurzen Moment lang fühlt man sich wie auf einer Wildwasserfahrt. Björn scheint jedoch anzunehmen, dass zwei junge Wanderer Spaß an sowas haben, und den haben wir auch, was man unseren Gesichtern offenbar ansieht, denn er wiederholt das Manöver gleich noch einmal.

29. Juni

You never fail until you stop trying. (Albert Einstein)

Auf dem Weg zurück zum Boot schließen sich uns zwei Wanderer aus Deutschland an. Sie wollen zum Kungsleden und erzählen mir stolz, dass sie vor knapp zwei Wochen in Abisko aufgebrochen seien und noch bis zum Ende des nördlichen Kungsleden weitergehen würden. Beide sind voll auf dem Survival-Trip: Tarnfleckklamotten, große Fahrtenmesser am Gürtel und eine noch größere Klappe. Ich sitze still im Bug und höre mir ihre Abenteuer an, bis sie sich irgendwann dazu herablassen, mich etwas gönnerhaft zu fragen, wohin ich unterwegs sei.

„Zum Nordkap“ erwidere ich, ohne eine Miene zu verziehen.

Sie stutzen und brechen dann in schallendes Gelächter aus. Ich würde doch nicht im Ernst glauben, dass ich das schaffen könne.

„Doch“ antworte ich völlig ungerührt.

Sie sehen mich forschend an. „Wo bist du denn losgelaufen?“ fragt der eine.

„Berlin.“

„Wie jetzt – den ganzen Weg zu Fuß?“

Ich nicke.

„Ganz allein?“

Ich nicke wieder. Das Boot läuft in einer kleinen sandigen Bucht auf Grund. Wir sind am Padjelantaleden. Ich steige aus, bezahle, verabschiede mich, und Björn tuckert mit den beiden Survival-Typen davon, die mir mit offenem Mund hinterher starren.

Ich triumphiere innerlich. Es mag kein besonders netter Zug von mir sein, aber irgendwie freue ich mich, meine Landsleute so verdutzt zurückzulassen. Ich finde die Kombination aus Outdoor-Begeisterung und testosterongeschwängertem Military-Fetisch absolut abstoßend. Solche Typen wissen oft ganz genau, wie man sich eine Blockhütte baut, ein Feuer macht, Lachse fängt, einen Bären erlegt und so weiter. Theoretisch haben sie das beim Lesen diverser Ratgeber schon tausendmal gemacht, praktisch waren sie noch niemals abseits von markierten Wanderwegen unterwegs. Trotzdem sind sie ständig dabei, ihre nicht vorhandenen Erfahrungen gefragt und ungefragt aller Welt mitzuteilen. Ich habe eine hohe Achtung vor allen Abenteurern, die sich in wirklich einsame Gegenden begeben, wo Know-how in Sachen Survival überlebensnotwenig ist. Aber eine Survival-Ausrüstung auf dem Kungsleden, das ist einfach nur lächerlich.

Niemand, der Lust verspürt, die Welt zu Fuß zu erkunden, sollte sich von irgendwem davon abhalten lassen, der daraus einen Hochleistungssport oder eine komplexe Wissenschaft machen will. Alles, was man braucht, lernt man im Gehen. Ich bin klein, schmal, kurzsichtig, Pazifist und Vegetarier. Was ich hier tue, ist keine Hexerei und keine Heldentat, es erfordert nichts weiter als den Mut zum ersten Schritt und das Durchhaltevermögen, die vielen anderen Schritte folgen zu lassen. 

30. Juni

Worauf es ankommt, ist, in Bewegung zu sein, dieses bequeme Federbett unserer Zivilisation zu verlassen und festzustellen, dass der Boden unter den Füßen aus Granit besteht und mit scharfen Kieseln bestreut ist. (R. L. Stevenson, Reise mit dem Esel durch die Cevennen)

Jenseits der Tarraluoppalstuga geht es nach Nordwesten einen Berg hinauf und hinaus aus dem Tarradalen. Der Blick zurück in Richtung Sarek ist überwältigend. Der Vássjábákte, Vássjátjåhkkå und Tsahtsa ergeben von hier aus eine seltsame Silhouette. Die drei Berge scheinen irgendwie einander zugewandt, als säßen sie um den Kaffeetisch und unterhielten sich. Bald erreiche ich wieder raues Hochgebirgsterrain mit Schneefeldern und Senken voll verwitterten Gerölls. Der Himmel hat sich bezogen und ein heftiger Wind pfeift über den grünlich braunen Teppich aus Flechten und dürrem Gras. Oberhalb eines von schroffen Hängen eingefassten Bergsees schlage ich mein Nachtlager auf. Soweit das Auge reicht nichts als Felsen und weiße Gipfel. Es sieht so einsam und unwirtlich aus, als ob diesen Ort noch nie zuvor ein Mensch betreten hätte. Natürlich ist das kompletter Blödsinn, aber es fühlt sich trotzdem so an. 

1. Juli

Gesucht sind Macher. Nötig wären Verhinderer. (Kurt Marti)

Während der Nacht legt sich der Wind. Durch vereinzelte helle Löcher am grauen Morgenhimmel dringen Sonnenstrahlen. Im Laufe des Vormittags ziehen sich die Wolken vollständig zurück. Der Weg führt über eine grenzenlose, zerklüftete Mondlandschaft hinweg. Unzählige Seen füllen die Senken zwischen den verwitterten Felsformationen – mal klein und rund und kaum größer als eine Pfütze, mal als langgestrecktes, inselreiches Gewässer mit bizarr geformter Uferlinie. Sobald sich ein Stück klarer Himmel auf der Wasseroberfläche spiegelt, erscheint sie in einem unnatürlich kräftigen, tiefen Blau. Zusammen mit den zackig ineinandergreifenden Formen des dunkelgrauen Gesteins und den leuchtend weißen Schneezungen, die sich hier und da von den Bergen herab schlängeln, entstehen wunderschöne Farbkontraste und spannungsvolle Bilder.

Wieder einmal fühle ich mich ungeheuer klein, aber auch ungeheuer erlöst. Selbst unsere größten Städte sind nur Stecknadeln im Heuhaufen der unendlichen Weiten dieser Erde. Wir erschaffen Regeln, Gesetze und Moralvorstellungen, wir entscheiden, was gut oder böse, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht ist, wir erfinden Obergrenzen für den Ausstoß von Abgasen, den Raubbau am Regenwald oder das Einleiten giftiger Substanzen in unsere Gewässer, und wir leben in dem lächerlichen Glauben, damit Zusammenhänge steuern und beeinflussen zu können, die sich unserem Zugriff in Wahrheit vollständig entziehen. Es verlangt Mut, sich dieses Unvermögen einzugestehen – Mut zur Demut.

2. Juli

Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. (Hermann Hesse, Demian)

Über den Miellädno gibt es eine Hängebrücke. Der Fluss ist an dieser Stelle um die 100 m breit und strömt in rasantem Tempo hinab in den Virirhaure. Flussaufwärts schaut man direkt in die Bergwelt des Sarek hinein. Besonders gut zu erkennen ist der markante Guohper, dessen Gipfelwand überhängt und wie eine Nase ins Tal vorspringt.

Am anderen Ufer geht es zunächst sanft, dann steiler ansteigend in einen Pass hinauf, über den man ins Tal des Låddejåhkå hinübergelangt. Bevor ich dieses anstrengende Stück in Angriff nehme, lasse ich mich für eine Mittagsrast im hohen Gras nieder. In der Nähe sind einige Sami mit der Reparatur eines Rentierzauns beschäftigt. Kaum dass ich sitze, kommen drei Kinder mit Huskys an der Leine den Pfad hinunter – zwei Jungen, vielleicht 12 und 15 Jahre alt, und ein etwas kleineres Mädchen. Sie begrüßen mich und setzen sich zu mir. Sie tun das ganz selbstverständlich, so als würden wir uns kennen und wären hier verabredet. Dann fangen sie an, mir alle möglichen neugierigen Fragen zu stellen. Der Älteste kann etwas Englisch und übersetzt. Als sie hören, dass ich in Berlin wohne, wollen sie wissen, wie es ist, in so einer großen Stadt zu leben, ob ich schon mal U-Bahn gefahren sei, wie hoch die Häuser seien und so weiter. Ich erzähle ein bisschen, aber es fällt mir in dieser Atmosphäre und nach den 3,5 Monaten Wanderschaft nicht gerade leicht, denn das, wovon ich da spreche, ist auch für mich weit weg.

Ich frage sie nach ihrem Leben hier, das ich mir genauso wenig vorstellen kann, wie sie sich meines.

„We just follow the reindeers, that’s all we do“ sagt der ältere Junge und lächelt. Den Sommer würden sie hier in Arasluokta verbringen, um sich um ihre Tiere zu kümmern. Im Winter wohnten sie in einer “big city“, wo sie auch zur Schule gingen.

Ich frage, welche Stadt das sei.

„Jokkmokk“ erwidert der Junge vollkommen ernsthaft.

Ich muss mir Mühe geben, nicht zu grinsen.

„You know it?“

Ich nicke. In Jokkmokk bin ich auf früheren Touren schon ein paar Mal von einem Bus in den anderen umgestiegen, um in den Sarek zu gelangen. Der Ort hat 2800 Einwohner und besteht aus einer Straßenkreuzung, um die sich ein paar Holzhäuschen nebst Supermarkt, Tankstelle, Bank, Kirche und Sami-Museum gruppieren, und offenbar gibt es irgendwo auch eine Schule.

Vom Rentierzaun her ruft jemand die drei zum Mittagessen. Wir wünschen einander alles Gute und sie laufen den Pfad hinab davon. Ich sehe ihnen nach. Sie tragen Jeans, Windjacke, Rucksack und Basecap. Bis auf das typische Sami-Messer, das die beiden Jungen am Gürtel hängen haben, unterscheiden sie sich äußerlich nicht von irgendwelchen Kindern in Berlin. Ich versuche mir vorzustellen, was die meisten Jugendlichen wohl für ein Gesicht ziehen würden, wenn sie sich mehrere Monate lang an einem vom Straßennetz abgeschnittenen Ort ohne elektrischen Strom und Handynetz aufhalten müssten. Umgekehrt wären diese drei wahrscheinlich vollkommen hilflos, würde man sie irgendwo in einer echten „big city“ aussetzen.

Ein wenig beneide ich sie darum, dass sie Angehörige eines noch immer so naturnah lebenden Volkes sind. Vielleicht tun sie gerade dasselbe und beneiden mich um meiner großstädtischen Herkunft willen. Sozialisation entscheidet maßgeblich über unser Leben, bestimmt unser Verhalten und prägt unser Denken, ohne dass wir viel Einfluss darauf nehmen können. Das Meiste ist uns noch nicht einmal bewusst. Während ich so nachdenke, kraxele ich gemächlich den Berg hinauf. Werde ich nach dieser Reise überhaupt noch in Berlin leben können oder wollen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mich meine Wanderung schon jetzt viel tiefgreifender verändert hat, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. 

3. Juli

Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung. (Psalm 43,3)

Morgens fällt zwar kein Wasser mehr vom Himmel, aber trüb ist es dennoch und der Boden, auf dem ich stehe, ist nass wie ein Schwamm. Meine Klamotten sind steif und klamm, aber ich schlüpfe wohl oder übel hinein. Die Kekse zum Frühstück schmecken feucht und klumpig. Nichts von all meinem Krempel kommt mir auch nur ansatzweise trocken vor. „Oh poor boy, you need more sun“ geht es mir mal wieder durch den Kopf.

Auf den ersten Kilometern fühle ich mich klebrig, vollgesogen und tonnenschwer. Zum Glück reißt der Himmel bald auf, und ich kriege die Sonne, die ich brauche. Die Sicht wird zusehends besser. Der Weg führt über hügeliges Grasland auf das imposante Akka-Massiv zu. Es besitzt mehrere Gipfel, von denen der höchste 2015 m erreicht. In den Senken dazwischen liegen prächtige Gletscher. Gemessen am Unterschied zum Tal, der über 1500 m beträgt, handelt es sich um den höchsten Berg Schwedens. Der 60 km weiter nordöstlich gelegene Kebnekaise ist mit 2099 m zwar noch etwas höher, aber er liegt inmitten anderer hoher Berge und fällt deshalb weniger auf. Das Akka-Massiv hingegen erhebt sich sozusagen aus dem Nichts. Es steht einfach plötzlich da, mitten auf der grünen Wiese.

„Akka“ bedeutet „alte Frau“ und spielt auf die samische Muttergottheit an. Tatsächlich hat die sonnenbeschienene Welt aus schwärzlichem Geröll und ewigem Schnee und Eis, die dort oben thront – zum Greifen nah und doch so unzugänglich – etwas Göttliches an sich, so als strahle ein Licht aus dem Berg heraus direkt in den Himmel empor.

Inzwischen ist es sommerlich warm geworden. Ich tropfe und trockne vor mich hin und der Rucksack wird wieder leichter. An einem Bach mache ich Rast, um zu trinken und ein paar Kekse zu essen, die jetzt viel besser schmecken als vorhin. Ich lese die Aufschrift auf der Packung und muss lachen: „Förvaras torrt och svalt“ (Kühl und trocken lagern). Leichter gesagt als getan. Unterwegs geht meist nur eins von beidem: entweder warm und trocken oder kühl und nass. 

4. Juli

Wie die Winde sind die Möglichkeiten unseres Lebens, und warum wagt man nie, die Segel auszuspannen? Alles ist besser als ein Leben, das nicht gelebt ist, sogar das Unglück ist besser, der Schmerz und die Verzweiflung, alles ist besser als die Leere!... (Max Frisch)

Auf dem Weg hinunter zum Akkajaure bieten sich immer wieder herrliche Blicke auf den Akka. Der beeindruckend gewaltige Berg nimmt sich als Hintergrund von so ziemlich allem einfach wunderschön aus, sei es Blumenwiese und Birkenwald, Sumpf mit Wollgras oder der steinige Strand des Sees.

Ich bin eine halbe Stunde zu früh am Anleger, trotzdem sitzen schon ein paar Wanderer am Ufer in der Sonne und warten. Das Schiff kommt pünktlich. Die Überfahrt dauert immerhin eine Dreiviertelstunde, denn der Akkajaure gehört zu den zehn größten Seen Schwedens und ist an dieser Stelle knappe 10 km breit.

Die wenigen anderen Passagiere steuern allesamt auf die Bushaltestelle zu. Offenbar endet ihre Tour hier und sie wollen weiter zum Nachtzug nach Stockholm oder zum Flughafen nach Kiruna. Ich bin der einzige, der auf die Landstraße in Richtung Westen abbiegt.

Es ist nur ein kurzes Stück bis zur Fjällstation, und um viertel vor neun stehe ich an der Rezeption, dann wenn andere auschecken. Zum Glück stört sich niemand an meiner ungewöhnlichen Ankunftszeit und ich bekomme sofort ein Zimmer. Heute gehe ich so früh zum gemütlichen Teil des Tages über, dass es eigentlich mehr ein Pausen- als ein Wandertag ist. Aber nachdem ich den 140 km langen Padjelantaleden in 5 Tagen heruntergerissen habe, kann ich etwas Erholung gut gebrauchen.

Der Laden ist nicht größer und auch nicht preiswerter als der in Kvikkjokk, doch allzu viel brauche ich nicht. Bis zum Supermarkt in Abisko sind es nur noch etwa 120 km, und zwischendurch warten auf dem Kungsleden ein paar Hütten mit Proviantverkauf.

Ich verbringe den Tag mit Schreiben, Lesen und kurzen Spaziergängen rund um die Fjällstation. Hier habe ich im Sommer vor zwei Jahren den Entschluss gefasst, eine Langstreckenwanderung zu unternehmen. Ich kam damals von meiner zweiten Sarek-Tour zurück und war ein bisschen wehmütig. Ich spürte, dass ich Lust hatte, noch Tage, Wochen oder sogar Monate lang weiterzuwandern und schwor mir, dieser Lust einmal in meinem Leben nachzugeben und damit nicht zu zögern, bis ich krank, lahm, alt und grau oder tot sein würde.