21. Mai

     The river is flowing

flowing and growing

the river is flowing

back to the sea.

     Mother Earth carries me

your child I will always be

Mother Earth carries me

back to the sea.                       (aus der Tradition der Native Americans, übermittelt durch Sun Bear)

Gegen Nachmittag erkenne ich in der Ferne ein Schild, das die Grenze zu Jämtland markiert, der nächstnördlichen Provinz. Nieselregen mischt sich in den Sonnenschein, und über die Straße hinweg spannt sich ein gestochen scharfer Regenbogen, wie ein Tor zum nächsten Abschnitt meiner Reise. Na wenn das kein Glück bringt!

Der Weg führt hinab ins Tal des Kölån. Der Himmel zieht sich mehr und mehr zu, und nur noch selten dringen vereinzelte Sonnenstrahlen durch. Unermüdlich begleiten mich die Rufe eines Kuckucks. Unten am Flussufer finde ich rasch ein kleines, ebenes Stück Wiese, wo ich mein Zelt aufbaue.

Die Landschaft wirkt eher herbstlich als frühlingshaft. Die wild vorbeitosenden Wassermassen sind von beigem Schilfgras und dichtem Birkenwald gesäumt. Das blattlose Geäst bildet eine einförmig braune, undurchdringliche Masse, aus der weiß die Stämme hervorstechen. Ich verziehe mich rasch ins Zelt. Das Rauschen des Flusses hat, wie so oft, etwas Beruhigendes, und bald nachdem ich gegessen habe, falle ich in einen tiefen erholsamen Schlaf.

22. Mai

Warum hatte er ein derartiges Leben gelebt? Warum hatte er sich den Verhältnissen unterworfen, warum war er in sie hineingestolpert? Warum hatte er nie auf den Dinge bestanden, die er für schön hielt  und die er begehrte, warum hatte er sie nie gesucht, nie für sie gekämpft, jedes Risiko auf sich genommen, um sie zu besitzen; warum war er nicht lieber gestorben, als auf sie zu verzichten? Auf diese Dinge kam es an. Auf eine gesicherte Existenz kam es nicht an. Es kam nicht darauf an, ein Auskommen zu haben, wenn es nichts gab, für das man leben konnte… (H.G. Wells, Mr. Polly steigt aus)

Einige Kilometer hinter Högvallen hält ein Auto neben mir. Eine Frau um die fünfzig steigt aus und begrüßt mich mit einem fröhlichen Lächeln. „Ich bin Åsa“ sagt sie und schüttelt mir die Hand. Die Schweden sind viel schneller beim Vornamen als wir, und ein Sie kennt ihre Sprache sowieso nicht. Ich liebe diese unkomplizierte Art.

Åsa möchte wissen, wohin ich unterwegs bin. Noch bevor ich antworten kann, bittet sie mich, ihre Neugier zu entschuldigen, man träfe hier so selten Leute, die man nicht kenne. Sie sei Journalistin bei der Lokalzeitung „Härjedalens Tidningen“ und freue sich über spannende Begegnungen.

Ich grinse verlegen. Schaffe ich es jetzt tatsächlich in die Lokalpresse? „Naja“, stammele ich ein bisschen schüchtern, „vielleicht ist es interessant für dich. Ich bin auf einer ziemlich langen Wanderung, ich laufe von Berlin zum Nordkap.“

Einen Moment lang starrt sie mich mit offenem Mund an. Dann strahlt sie über das ganze Gesicht und zückt ihren Notizblock. „Darf ich einen kleinen Artikel über dich schreiben?“

Jetzt strahle ich. „Klar, gerne!“

Zuerst schießt sie ein Foto von mir. Dann fragt sie alles Mögliche, warum ich diese Reise mache, wann ich losgelaufen bin, wann ich anzukommen plane und welche Route ich nehme. Ich erzähle ihr, dass ich Medizin studiert und dabei viel zu viel Zeit über meinen Büchern zugebracht habe, dass ich wahnsinnig gerne wandern gehe und mir nach dem Examen eine Auszeit für eine ganz große Tour gönnen wollte. Ich versuche mich zu erinnern, was ich seit meinem Aufbruch erlebt habe, und zähle auf, durch welche Regionen Schwedens ich schon gelaufen bin und noch laufen werde. Heute ist mein 71. Tag und es liegen knappe 1500 km hinter mir.

Sie hört gespannt zu und bekritzelt ihren Notizblock. Die 1500 km übersetzt sie mit 150 skandinavischen Meilen (mil). Eine skandinavische Meile seien 10 km, mit einzelnen Kilometern gebe man sich hier nicht ab, es gäbe so große unbewohnte Landstriche, dass man damit nicht weit komme. Ich verstehe auf Anhieb, was sie meint. Ich glaube, ich werde von nun an ebenfalls in skandinavischen Meilen denken. Dann sind es von hier bis zum Nordkap noch gute 180 mil, das klingt nicht schlecht.

23. Mai

Die Vorsichtigen, die Besitzenden wiegen sich in Sicherheit, doch notwendigerweise sind sie alles andere als sicher. Sie sind abhängig von ihrem Besitz, ihrem Geld, ihrem Prestige, ihrem Ego – das heißt von etwas, das sich außerhalb ihrer selbst befindet. Aber was wird aus ihnen, wenn sie verlieren, was sie haben? Und in der Tat gibt es nichts, was man haben und nicht auch verlieren kann. Am offenkundigsten natürlich Besitz, und damit gewöhnlich auch Stellung und Freunde – und man kann jeden Augenblick sein Leben verlieren, irgendwann verliert jeder es unausbleiblich. (Erich Fromm, Haben oder Sein)

Dankenswerterweise schaltet der Regen pünktlich zum Zeltabbau in den Nieselmodus und hört dann sogar ganz auf. Von schönem Wetter kann trotzdem keine Rede sein. An einem See lege ich eine Rast ein. Dicke graue Eisschollen treiben auf dem Wasser und am Ufer beugen sich kahle Birken im Wind. Schneidend kalte Luft weht mir ins Gesicht. Das also soll der 23. Mai sein, für mich sieht das eher nach dem 23. November aus.

Auf dem zweiten Stück der Etappe beginnt es so richtig erbarmungslos zu schütten. Die Straße führt überwiegend bergab und gleicht nach kürzester Zeit einem Wasserfall. Die umliegenden Berge verschwimmen im Dunst und bald kann ich kaum noch die Konturen der Bäume am Straßenrand ausmachen. Ich hasse meine Brille. Wenn ich zurück bin, erfinde ich ein Modell mit Scheibenwischer.

Die Welt hat sich in eine eiskalte Badewanne verwandelt. Der Regen kommt so schwallartig vom Himmel, dass man überhaupt keine einzelnen Tropfen mehr unterscheiden kann. Meine Regenklamotten nützen unter diesen Umständen wenig. Das Wasser dringt einfach überall ein. Es fließt an meinem Gesicht hinab, zwischen Hals und Jackenkragen hindurch meinen Oberkörper hinunter und weiter in den Hosenbund. Ekelhaft! Ich versuche vollkommen abzuschalten, alles auszublenden und nach einer Weile nehme ich die Außenwelt tatsächlich kaum mehr wahr. Meine Gedanken gehören ganz und gar der Vorstellung von einem trockenen und warmen Zimmer mit weichem Bett, einem guten Buch, einer Tasse heißem Tee und reichlich Schokolade.

Als der Regen nachlässt, erwache ich wie aus einem Traum. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. Es fühlt sich an, als sei ich für eine Weile überhaupt nicht mehr hier gewesen. Ich habe so großen Hunger, dass mir richtig übel ist. Ich zittere am ganzen Körper und mein Bauch fühlt sich entsetzlich leer an. Ich setze mich unter einen Baum am Straßenrand und stopfe mir Schokoriegel in den Mund. Absurd, so ein Picknick im Regen auf schwammig nassem Waldboden. Aber was soll’s, nasser kann ich nicht mehr werden. Plötzlich muss ich lachen – ganz laut und lange. 

24. Mai

Wenn du nicht tust, was du tun kannst, dann tötest du einen Teil deiner selbst, und dieser Teil wird nie wieder nachwachsen. Ein Teil von dir wird tot sein, und du wirst diese Kälte jedes Mal spüren, wenn du am Morgen erwachst. (Reif Larsen, Die Karte meiner Träume)

Wieder mal hält ein Auto neben mir. Ein älterer Herr mit grauem Bart und lustigem Filzhut lehnt sich neugierig zum Fenster hinaus.

„Hej, varifrån kommer du?“ (Hallo, woher kommst du?), fragt er mich. Er spricht langsam und deutlich, und ich kann ihn erstaunlich gut verstehen.

„Tyskland“ erwidere ich.

Da grinst er und sagt in breitestem Schwäbisch: „Des könna mir au oifachr han. I bin au Deidschr. I leb zwar scho oi baar Jahre in Schweda, abr urschbrünglich komm i aus Schduagard.“

Während ich noch überlege, ob ich sein Schwedisch oder sein Schwäbisch besser verstehe, redete er schon weiter: „Bisch du der aus der Zeidung?“

Ich nicke. So schnell also wird man hier zur lokalen Berühmtheit. „Na was für a Zufall. Dann kommsch aus Brlin?“

Ich nicke wieder.

„I han au mol da gwohnd – vor fünfzich Jahra zom Schdudiera. Du bisch also zom Nordkab underwegs?“

Ich nicke zum dritten Mal. „Dabferr Kärle!“ meint er anerkennend. „I bin frühr au vil gwanderd. Wie lang bisch du noh schon underwegs?“

„Ist mein 73. Tag.“ Endlich sage ich auch mal was, statt nur mit dem Kopf zu wackeln.

„Und wo bisch du scho ieberall lang glaufa?“

Ich beschreibe ihm meine Route. Er erzählt, welche Gegenden in Schweden er besonders mag und schließlich schüttelt er mir herzlich die Hand „I freie mi, die gdroffa zu han. Vil Glügg für dai weidera Weg.“ Er winkt und fährt davon.

Gegen Mittag erreiche ich die Landstraße nach Funäsdalen. Sie ist verhältnismäßig stark befahren und der Seitenstreifen ziemlich schmal. Zum Glück sind die schwedischen Autofahrer mit Wanderern sehr entspannt. Ich bin auf meiner gesamten Tour noch nicht einmal angehupt worden, wirklich, nicht einmal!

Nach einigen Kilometern biege ich auf einen schmalen Nebenweg direkt am Ufer des Funäsdalsjön ab, der bis ins Stadtzentrum führt. Es bieten sich atemberaubend schöne Ausblicke. Was da aufragt, sind mehr als nur ein paar Hügel. Zwar erreichen auch die allerhöchsten Berge hier nur um die 1700 m, aber auf 62° Nord, wo die Baumgrenze deutlich unter 1000 m liegt, macht das schon was her.

In der Stadt gibt es nicht nur einen Supermarkt, sondern auch einen Geldautomaten, eine Tankstelle, ein Sportgeschäft und ein Café – ein richtiges urbanes Zentrum dieses Funäsdalen. Leider finde ich nirgends eine „Härjedalens Tidningen“. Schade!

Ich habe tierischen Heißhunger auf Ananas. Da es keine frische gibt, kaufe ich eine Dose. Zum Glück, wie mir draußen auffällt. Denn wie hätte ich eine ganze Ananas mit meinem Taschenmesser kleinkriegen sollen? Da hätte sich nach und nach sicher ganz Funäsdalen um mich versammelt, um zuzusehen, wie der verrückte Deutsche aus der Zeitung vergeblich versucht, mit seinem popeligen Schweizer Messer eine Ananas zu schlachten. Während ich genüsslich Scheibe für Scheibe aus der Dose fische, beginnt es zu nieseln, doch ich lasse mich nicht stören. Nach der gestrigen Sintflut kann mich so schnell kein Regen mehr aus der Ruhe bringen. 

25. Mai

Nichts entzückt meine Seele so sehr wie das Gefühl der Erleichterung, des Entkommens und der absoluten Freiheit, wie man sie in einer weiten einsamen Landschaft erlebt. (W.H. Hudsen, Idle days in Patagonia)

Schon bald bin ich wieder jenseits der Baumgrenze. Die Schotterpiste führt immer höher hinauf und scheint direkt im Himmel zu enden. Viel fehlt nicht, und ich könnte die weißen Schäfchenwolken berühren. So wenigstens kommt es mir vor. Wenn ich zurückblicke, ist, soweit das Auge reicht, nichts als die schwarzweiß gefleckte Gebirgswelt zu erkennen. Mir begegnet kein einziges Auto mehr. Die Schneehaufen rechts und links werden größer und größer und es fühlt sich an, als sei ich ganz allein auf dem Weg bis ans Ende der Welt.

Oben angelangt befinde ich mich auf einem sonnenbeschienenen, leeren Parkplatz mit einer Infotafel und einem Gedenkstein, der an die Eröffnung der Straße in den 30er Jahren erinnert. Meine Füße versinken knöcheltief in einer graubraunen Brühe aus Schneematsch und Schotter. Ringsum erstreckt sich bis zum Horizont ein zerklüftetes Panorama aus ineinander geschachtelten Berggipfeln. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Die eisige windgepeitschte Ebene schillert unwirklich im Sonnenlicht. Die noch verschneiten Flächen leuchten in grellem Weiß. Dazwischen drängt sich Sumpfland mit rötlich-dunkelbraunem Heidekraut und beigem Gras. In den Senken hat sich jede Menge Wasser zu kleinen und größeren, noch halb zugefrorenen und hellblau schimmernden Seen zusammengesammelt. Reißende Bäche bahnen sich ihren Weg und graben tiefe Krater in den Schnee. Das Ganze ist von unwiderstehlich anziehender Schönheit und liegt zugleich unberührbar da wie versiegelt von einem schleierartigen Glanz lebensfeindlicher Kälte.

Ich stapfe eine ganze Weile umher, bis ich endlich etwa 1,5 km von der Straße entfernt einen Schlafplatz finde. Mit dem Luxus trockener Füße, den ich seit Tännäs genossen habe, ist es nun vorbei. Aber nasse Schuhe und Socken sind ein lächerlich geringer Preis für derart überwältigende landschaftliche Eindrücke. 

26. Mai

     Durch so viel Formen geschritten,

durch Ich und Wir und Du,

doch alles blieb erlitten

durch die ewige Frage: wozu? 

     Das ist eine Kinderfrage.

Dir wurde erst spät bewusst,

es gibt nur eines: ertrage

-ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-

dein fernbestimmtes: Du musst.

     Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,

was alles erblühte, verblich,

es gibt nur zwei Dinge: die Leere

und das gezeichnete Ich.                           Nur zwei Dinge (Gottfried Benn)

Am Ortsausgang überholt mich ein Auto. Es ist schon beinah um die nächste Ecke verschwunden, als es plötzlich ruckartig stehenbleibt und dann rückwärts wieder auf mich zufährt. Ein älteres Ehepaar in Gummistiefeln und karierten Hemden steigt aus. Sie winken mir zu, die Zeitung von vorgestern in der Hand. Ob ich das sei, da auf dem Foto. Ich nicke. Die beiden sind sichtlich begeistert, mich getroffen zu haben. Sie werden nicht müde zu betonen, was für ein schöner Zufall das sei, wo sie doch eigentlich nur Vögel beobachten wollten. Sie schenken mir ihre Zeitung. Ich freue mich riesig. So komme ich doch noch an meine „Härjedalens Tidningen“.

Zum Abschied schießt sie ein Foto von mir und ihm. Ich im Bitte-Lächeln-Modus neben einem gefühlt doppelt so großen und doppelt so alten Schweden, der mir in einer Mischung aus unbeholfenem Englisch und Schwedisch unentwegt versichert, wie sehr er mich bewundert für das, was ich tue. Es ist mir fast ein bisschen unangenehm. So viel Lob verdiene ich nicht. Ich bin kein Held. Ich opfere mich nicht auf für andere oder tue sonst irgendetwas, was für die Allgemeinheit von Nutzen wäre. Ich mache das hier nur für mich. Und es fällt mir noch nicht einmal schwer. Ich laufe zum Nordkap, weil das zu den Dingen gehört, die ich getan haben will, bevor ich sterbe. Warum das so ist, weiß ich nicht, aber es ist alternativlos. 

27. Mai

Es wohnt Genuss im dunklen Waldesgrüne,

Entzücken weilt auf unbetretner Düne,

Gesellschaft ist, wo alles menschenleer,

Musik im Wellenschlag am ewigen Meer,

 

Die Menschen lieb ich, die Natur noch mehr. (Lord Byron)

Die Kilometer laufen sich wie von selbst – vielleicht des guten Wetters, vielleicht der zauberhaften Landschaft wegen. Ein See folgte dem anderen – klares Wasser, in dem sich der blaue Himmel und die weißen Wolken spiegeln, an den Ufern hohe Fichten und Kiefern und im Hintergrund verschneite Gebirgsketten. Ich bin allein mit dem Rauschen des Waldes, dem Gesang der Vögel und dem Summen der Hummeln, die sich über die gelben Blüten des Huflattichs hermachen.

 

Am Tossåsjön endet der Forstweg. Auf dem Wasser treiben Eisschollen. Weiter kommt man nur auf Pfaden übers hohe Fjäll. Immer wieder fällt mein Blick auf die Berge, die sich da vor mir auftürmen. Ich muss ans Fulufjäll denken, und mir wird ein wenig mulmig. Noch aber bin ich unterhalb der Baumgrenze und alles ist ganz harmlos. Ameisen krabbeln über den Boden, Falter flattern umher und an den Zweigen entdecke ich winzige Knospen, aus denen, noch kaum zu erahnen, das erste Grün hervorquillt.

28. Mai

Zu erwähnen ist bloß, dass die Herauslösung der menschlichen Ökonomie aus derjenigen der Erde, maßlose Zerstörungen angerichtet hat. Eine ansteigende menschliche Brutto-Produktionsrate bei einer abnehmenden Brutto-Produktionsrate der Erde ist ganz einfach ein Widerspruch. (Thomas Berry, Das Wild und das Heilige)

Der Weg führt bergauf, gesäumt von hohen Fichten. Oben lichtet sich der Wald und die Landschaft öffnet sich zu einer ausgedehnten Hochebene. Strauchförmig kleine Birken, Heidekraut, Weidengestrüpp und beiges Gras biegen sich im Wind. Viel Schnee liegt nicht mehr, aber Sumpf gibt es so reichlich, dass an trockene Füße nicht zu denken ist. Nach Süden fällt das Gelände sanft ab und mein Blick verliert sich irgendwo im Dunst. Im Norden erhebt sich kahler, teils schneebedeckter und ansonsten schwarzer Fels. 

Der Pfad windet sich durch ein gigantisches Chaos aus grauen Gesteinsbrocken unterschiedlichster Form und Größe. Die karge Gegend gewinnt mehr und mehr den Charakter einer Mondlandschaft. In einiger Entfernung grasen Rentiere. Immer wieder staune ich darüber, wie genügsam diese Geschöpfe sind. Dem eisigen Wind, dem peitschenden Regen, dem Schnee und den Mückenschwärmen schutzlos ausgesetzt beanspruchen sie zum Überleben nichts weiter als ein bisschen Quellwasser und das Wenige an Flechten und trockenem Gras, das hier noch wächst.

Wir Menschen dagegen sind so laut, so raumgreifend, so zerstörungswütig. Wir wollen immer mehr, immer schneller, für immer weniger Geld. Wir sind unersättlich. Alle anderen Geschöpfe verstehen sich darauf zu existieren, ohne unberechenbares Chaos und weltumspannende Verheerung zu produzieren. Sie nehmen nur so viel, wie sie zurückzugeben im Stande sind. Wir aber plündern die Erde aus und überziehen sie mit Krieg, Not und Elend. Wir sind dabei, einen Biozid biblischen Ausmaßes zu begehen. Die Liste der ausgestorbenen Arten wird länger und länger, und irgendwann werden wir selbst darauf erscheinen. Die Erde kann ohne uns, wir aber nicht ohne sie. Woraus schließen wir, uns als Krone der Schöpfung betrachten zu dürfen? Sind wir nicht eher der Abschaum, der große Irrtum oder der verlorene Sohn? 

29. Mai

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.                                 (Dietrich Bonhoeffer)

Gegen 10 Uhr kommt endlich die Sonne heraus, und ich mache mich auf den Weg. Vom nächsten Hügel aus genieße ich einen herrlichen Blick zurück auf den See und die Bergkette am anderen Ufer. Gestern im Abendrot war sie geheimnisvoll mit den bizarren Wolken verwachsen. Jetzt im Sonnenschein zeichnen sich die Felskonturen gestochen scharf vor einem leuchtend blauen Horizont ab und alles sieht vollkommen anders aus.

Der Pfad windet sich durch Heidekraut und Blaubeergestrüpp sanft bergab. Zur Rechten rauscht in einem tief eingeschnittenen Spalt zwischen schmelzenden Schneemassen ein Gebirgsbach. Vor mir liegt dunkelgrün ein ausgedehntes, bewaldetes Tal. An der Baumgrenze lasse ich mich zu einer Mittagsrast im lichten Birkenwald nieder. Inzwischen ist es beinah sommerlich warm geworden. Ich lege mich ins weiche Moos, blinzle durch die grünen Knospen hindurch in den Himmel hinauf und schlafe schon bald darauf fest ein.

Offenbar bin ich heute ziemlich ruhebedürftig. Als ich wieder erwache, ist der Nachmittag jedenfalls schon weit fortgeschritten. Wahrscheinlich steckt mir die nasskalte gestrige Etappe noch in den Knochen.

30. Mai

Schau ganz tief in die Natur, und dann verstehst du alles besser. (Albert Einstein)

Wie ich so dem Ende der Etappe entgegenlaufe, wird mir plötzlich klar, dass heute Halbzeit ist. Bis zum Nordkap sind es auf dem Weg, den ich nehme, ca. 3325 km, und die Hälfte müsste jetzt geschafft sein. Zwar habe ich keinen Kilometerzähler am Fuß und kann das nur ungefähr schätzen, aber – exakt oder nicht – ich setze mich auf den Boden, esse einen Schokoriegel und beschließe einfach, dass hier die Mitte ist.

Im Weiterlaufen grinse ich über das ganze Gesicht. Ich muss an den ersten Tag meiner Wanderung zurückdenken – daran, wie ich erschöpft am Rand der Alten Hamburger Poststraße im Laub saß und mir kaum vorstellen konnte, meinen Rucksack jemals wieder aufzusetzen, geschweige denn damit bis zum Nordkap zu wandern. Damals habe ich mich einfach gezwungen weiterzugehen und ganz mechanisch einen Fuß vor den anderen gesetzt, ohne irgendetwas zu denken und ohne auch nur im Traum daran zu glauben, dass ich jemals die 1000-km-Marke knacken würde. Und jetzt bin ich wirklich und ehrlich und allen Ernstes ab sofort näher am Nordkap als an Berlin!

 

Ich finde einen geschützten Platz auf einem weichen Teppich aus Blaubeergesträuch unter einem Dach aus dichten Fichtenzweigen. Nach dem Abendessen liege ich satt und zufrieden vorm Zelt und schaue in das Geäst des Waldes hinauf. Baumkronen vor dem Hintergrund des Himmels sind etwas Wunderschönens. Wenn ich wieder zu Hause und im Alltag bin, dann werde ich wissen, dass ich nur innehalten und am nächstbesten Baum hinaufschauen muss, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie herrlich die Schöpfung ist, wie wunderbar vielfältig und wandelbar im Wechsel der Jahreszeiten.