Wer wenig besitzt, wird umso weniger besessen: Gelobt sei die kleine Armut! (Friedrich Nietzsche)
Vor der Rezeption herrscht reges Treiben. Man kann hier nicht nur campen, sondern auch Zimmer mieten. Mehrere Leute laufen, Taschen in der einen und Regenschirme in der anderen Hand, zwischen dem Pensionsgebäude und ihren Autos hin und her. Eine französische Reisegruppe versammelt sich laut rufend neben ihrem Bus. Ich ziehe die Kapuze tiefer in die Stirn und stapfte quer über den aufgeweichten Schotter des Parkplatzes hinweg zur Straße. Ich fühle mich fremd unter so vielen Menschen und weitaus einsamer als allein im Fjäll. Die fahren alle mit einem festen Dach über dem Kopf durch die Gegend und haben für heute Abend irgendwo die nächste warme Unterkunft gebucht. Ich dagegen werde mich durch Wind und Regen schleppen und nachher im klammen Schlafsack liegen, mit nichts als einer dünnen Plane über mir. Muss ich mich jetzt schwach und ausgesetzt fühlen? Bin ich der mit der Arschkarte? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Mag sein, dass ich das vor vier Monaten noch genauso empfunden hätte. Jetzt aber gelingt es mir trotz der mitleidigen Blicke, die mir hier und da begegnen, beim besten Willen nicht, mich auch nur ansatzweise zu ärgern oder zu bedauern. Ich staune selbst darüber, denn objektiv betrachtet, ist meine gegenwärtige Situation nicht unbedingt erstrebenswert. Dennoch möchte ich mit keinem hier tauschen, ich beneide niemanden um irgendetwas. Ich bin vollkommen zufrieden mit dem, was ich bin und habe. Selten war ich auf eine so unerschütterliche und ehrliche Art und Weise wunschlos glücklich.
Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag. (Wilhelm von Humboldt)
Gegen Nachmittag geht es hinauf auf den Stuoroaivi. Der Straßenbelag hat sich in eine aufgewühlte Matschwüste voller loser, faust- bis fußballgroßer Steine verwandelt, über die die vom Himmel prasselnden Wassermassen wildbachartig zu Tal strömen. Ich stelle den Rucksack ab, schäle meine Hände aus den nassen Handschuhen und fingere bibbernd einen Schokoriegel aus meinem Proviantbeutel. Ungefähr hier nämlich knacke ich die 3000 km. Das muss gefeiert werden – egal unter welchen Umständen!
Auf der Ostseite des Stuoroaivi finde ich ein ebenes und halbwegs windgeschütztes Plätzchen für die Nacht. Pünktlich zum Zeltaufbau hört es auf zu regnen. Zwar sind die Wolken noch immer einförmig grau, steigen aber allmählich höher und die Sicht bessert sich rasch. Ich hole Wasser aus einem nahegelegenen Bach und koche mir ganz unbehelligt von Mücken oder Unwetter mein Abendessen. Anschließend krieche ich in den Schlafsack und genieße noch lange die Weite des baumlosen Fjälls. Mein Bett ist ein grenzenloser grüner Teppich, der irgendwo in der Ferne mit dem Himmel zusammenstößt.
Die Normalität ist eine gepflasterte Straße: man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr. (Vincent van Gogh)
In der Ferne auf dem Feldweg steht ein Campingbus. Als ich näherkomme, sehe ich rechts daneben auf einem Hügel einen kleinen, dicklichen Mann in flatterndem Karo-Hemd vor einem Stativ knien, auf dem er eine Kamera mit gigantisch langem Objektiv zu befestigen versucht. Der Bus trägt ein Schweizer Kennzeichen. Eine schlecht gelaunt dreinblickende Frau auf dem Beifahrersitz starrt durch die Windschutzscheibe. Ich grüße, sie hebt aber kaum die Hand. Ganz anders der Mann oben auf dem Hügel. Als er mich entdeckt, kommt er strahlend heruntergerannt. Er freue sich immer so über die Wanderer. Eigentlich würde er auch gern wandern, aber leider sei er dafür zu unsportlich.
Ich frage ihn, ob er deutsch spreche, und deute auf sein Nummernschild. Tatsächlich, er kommt aus Winterthur. Nachdem ich erzählt habe, woher ich komme, lacht er herzlich auf: „Dann musst du Philipp sein?!“ Ich schaue ihn verblüfft an. Er fügt hinzu, dass auf dem Campingplatz in Alta ein Radler gewesen sei, Lukas, der habe ihm von einem total durchgeknallten Typen erzählt, der den ganzen Weg von Berlin bis hierher gelaufen sei.
Hm, das bin dann wohl ich – ein total durchgeknallter Typ. Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment nehmen soll. Doch was folgt, ist eines, für mich wenigstens: „Darf ich ein Foto von dir machen?“ bittet er mich und fügt hinzu: „Du siehst nämlich aus wie der Junge in diesem Film, der am Ende in Alaska in seinem Schlafsack in diesem Bus...“ Er vollendet den Satz nicht, sondern scharrt nervös mit dem Fuß auf dem Boden herum. „Stirbt?“ frage ich. „Ja genau“ stottert er. Ich grinse und befreie ihn aus seiner Verlegenheit: „Klar kannst du ein Foto von mir machen, kein Problem!“
Er stolpert auf seinen merkwürdig kurzen Beinen den Hügel hinauf, holt seine Kamera und steht wenig später wieder keuchend vor mir. Dann macht er sich daran, das Stativ aufzubauen und erklärt mir aufwendig, wie und wo ich mich hinzustellen habe. Ich als „Into the Wild“-Modell, das ist eine wirklich amüsante Abwechslung.
Noch bevor er das erste Mal den Auslöser betätigt hat, beginnen dicke Tropfen vom Himmel zu fallen, und es werden rasch mehr. Die Frau im Auto gibt ihm durch immer vehementeres Klopfen gegen die Windschutzscheibe unmissverständlich zu verstehen, dass er hineinkommen solle. „Gleich, mein Liebes, nur noch ein Sekündchen“, flötet er und dreht und schraubt an dem Stativ herum. Wenn hier einer total durchgeknallt ist…, denke ich im Stillen. Da endlich fängt er an zu knipsen und kurz darauf hat er, eh ich’s mich versehe, mit seinen raschen, aber seltsam ungelenken Bewegungen die Kamera wieder im Bus verstaut.
Ich zwänge meine Wanderschuhe durch die Beinöffnungen der Regenhose und ziehe mir die Kapuze tiefer in die Stirn. „Willst du mit?“ fragt er. „Wir fahren zurück nach Alta.“ Wie immer lehne ich höflich dankend ab, was mir mittlerweile kaum noch schwerfällt. „Mann, du bist echt eisern“, sagt er anerkennend und wünscht mir alles Gute. Krachend fällt die Schiebetür zu, und der Bus hoppelt durch den grauen Regendunst zwischen den sich mit erstaunlicher Schnelligkeit füllenden Schlaglöchern davon.
Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen. (Mahatma Ghandi)
Bis Alta ist jetzt 20 km Asphalttreten angesagt. Die Straße ist nur mäßig befahren. Sie führt in sanften Kurven durch dichten Nadelwald und an einigen Weiden und Wiesen entlang. Rechts von mir fließt, meistens hinter Bäumen verborgen, der Altaelva. Es ist windstill und sonnig und ich muss mich um nichts sorgen. Stunden vergehen vollkommen ereignislos. Ich habe alle Zeit der Welt, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Am Anfang der Reise habe ich solche Phasen oft als eintönig empfunden und nicht gewusst, was ich mit ihnen anfangen soll. Inzwischen liebe ich es, wenn mich nichts und niemand ablenkt. Einfälle, Ideen oder Assoziationen, wachsen ungestört in mir heran, machen sich breit, verblassen und verschwinden schließlich – wie eine Welle, die auf den Strand gleitet und sich wieder ins Meer zurückzieht, um der Nächsten Platz zu machen. Es ist als würde mein Gehirn atmen.
Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer. (Seneca)
Am östlichen Ende von Alta treffe ich auf die E6. Hier steht eine Entfernungstafel, wie man sie an jeder Schnellstraße oder Autobahn finden kann, – eigentlich überhaupt nicht der Rede wert. Diese aber ist für mich etwas ganz Besonderes. Es ist das allererste Mal auf meinem Weg, dass irgendein offizieller Hinweis auf das Nordkap auftaucht. Hier steht es schwarz auf weiß oder eigentlich auf gelb: „Nordkapp 229 km“.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre auf das Schild, so als sähe ich da etwas vollkommen Unfassbares. Meine Knie werden weich und zittrig, ich lasse mich auf den Randstreifen fallen, stütze den Kopf in die Hände und weine leise vor mich. Ist das wirklich wahr, bin ich wirklich hier – den ganzen Weg zu Fuß? Ich bin doch gerade erst losgelaufen. Da war auch so ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift, und Berlin war durchgestrichen mit einem dicken roten Balken.
Jeden einzelnen Meter habe ich aus eigener Kraft zurückgelegt, aber nicht, weil ich mir so sicher war, dass ich jemals hier ankommen würde, sondern obwohl ich es für beinah unmöglich hielt. Ich habe erst unterwegs gelernt, an mich zu glauben, mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Mir ist als erwache ich ganz allmählich aus einem Traum, doch nicht etwa, um festzustellen, dass es nur ein Traum war, sondern um mehr und mehr zu realisieren, dass ich mir eine neue Wirklichkeit erwandert und eine ganz andere Sicht auf mich selbst gewonnen habe.
Im Weitergehen muss ich unentwegt grinsen, ich kann nicht anders, es ist als seien meine Mundwinkel an den Ohrläppchen festgetackert. Nüchtern betrachtet ist es nicht allzu erquicklich, an dieser Straße entlang zu marschieren. Die E6 ist eine der wenigen großen Verkehrsadern hier oben, und jetzt in der Hochsaison durch den Nordkap-Tourismus noch zusätzlich frequentiert. Unentwegt sausen PKWs, Camper, Wohnmobile, Reisebusse und Lastwagen an mir vorbei. Aber mir zeigt sich das alles in einem völlig anderen Licht. Für mich ist das hier nicht die E6, sondern meine Zielgerade zum Nordkap.
Die reinste Form des Wahnsinns ist es alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. (Albert Einstein)
Als Wanderer bin ich hier der absolute Exot – bis auf den einen oder anderen Radler alle paar Stunden, nichts als Autos, Autos und wieder Autos. Okay, ich sehe ein, dass das nicht verwunderlich ist, schließlich befinde ich mich auf einer Schnellstraße. Schöner wäre es ohne all die Blechkisten dennoch.
Autos besitzen, gemessen an dem Schaden, den sie anrichten, noch immer ein erstaunlich gutes Image. Es ist einfach schick und cool ein Auto zu haben. Es macht einen smart und weltgewandt, flexibel und modern, es zeigt, dass man es zu etwas gebracht hat im Leben. Mit einem Auto kann man nichts falsch machen und steht immer auf der richtigen Seite. Mir ist das vollkommen unverständlich, wo wir doch inzwischen so viel über die gesundheitlichen Schäden und die Umweltbelastung durch Abgasausstoß wissen.
Auf die menschliche Fähigkeit zu vernünftigem Denken und verantwortungsvollem Handeln bilden wir uns eine Menge ein, doch wie weit her ist es mit dieser Fähigkeit tatsächlich? Rationale Erwägungen hätten uns längst dazu bringen müssen, vom Autofahren Abstand zu nehmen. Was uns dazu bewegt, es dennoch zu tun, ist das glatte Gegenteil von Vernunft. Es ist die vollkommen unreflektierte Adaptation von Mobilitätsidealen, die wider besseren Wissens von Werbung und Medien hemmungslos in die Welt gesetzt werden – ohne Rücksicht auf Verluste und ohne irgendeinen moralischen Anspruch.
Ich halte privaten Autoverkehr von Ausnahmen abgesehen für rücksichtslos, gefährlich, dumm, egoistisch... Mit dieser Ansicht macht man sich keine Freunde. Doch wer gegen den Strom schwimmt, provoziert nun mal. Es kostet Mut, Dinge anders zu machen, aber es kann dazu beitragen, die allgemeine Flussrichtung umzudrehen. Vielleicht ist es längst zu spät, weil die Menschheit bereits als tosender Wasserfall geradewegs in den Abgrund saust. Doch ich will nicht aufhören zu hoffen. Ich möchte glauben, dass auch ein Wasserfall wieder bergauf fließen kann.
Von außen mag es als eine einzige entbehrungsreiche Zumutung erscheinen, wie ich mich da im Schneckentempo über die eiskalte, zugige Ebene kämpfe, während alle anderen an mir vorbeidüsen. Doch in mir drin sieht es vollkommen anders aus. Ohne im Geringsten lügen zu müssen, kann ich behaupten, dass ich absolut glücklich bin. Ich schöpfe aus meiner Wanderung unendlich viel Kraft, Mut und Vertrauen. Immer wieder aufs Neue überrasche ich mich selbst und entdecke eine Stärke in mir, die mich mehr vollbringen lässt, als ich mir je zugetraut hätte. Ich lerne, dass es möglich ist, einen eigenen, ungewöhnlichen und steinigen Weg zu gehen. Wir alle sind zu mehr berufen als zu gedankenlosem Mitläufertum, selbstsüchtiger Bequemlichkeit und ängstlicher Unterordnung. Ich wünsche jedem Menschen von Herzen, dass er wenigstens einmal im Leben spürt, dass es nicht seine Bestimmung ist, sich willenlos den Bach hinuntertreiben zu lassen.
Unerbittlich zerstören Nutzen und Nutzung diesen Planeten. Das Nutzlose allein hat noch Erbarmen mit uns. (Kurt Marti)
Das Gelände fällt stufenförmig zum Fluss hin ab. Überall auf den schmalen Terrassen wachsen Birken, hohes Gras und bunte Blumen. Nach einigem Suchen finde ich eine halbwegs ebene, ausreichend große Fläche, wo ich mein Zelt aufstellen kann. Am jenseitigen Ufer laufen Rentiere den steinigen Strand entlang und rupfen das wenige Grünzeug heraus, das aus den Felsritzen quillt. In der Ferne schlängelt sich die Straße in Serpentinen eine Steilwand hinauf. Von hier aus sind die Autos nur kleine bewegliche Punkte, wie Murmeln, die am Fels entlang kullern. Wer in so einer rasenden Kugel sitzt, der kann zwar heute Abend noch das Nordkap erreichen, aber die Rentiere da drüben entgehen ihm, ebenso wie das herrliche waldige Ufer, auf dem ich sitze, die prächtigen violett blühenden Disteln und das weiße Leuchten der Schafgarbe auf dem saftig grünen Wiesenteppich. Er hört weder das Rascheln der Blätter noch den Gesang der Vögel. Er spürt den Wind nicht im Gesicht und riecht und schmeckt nichts vom Duft des ausgehenden Sommers. Wer im Auto an allem vorbeidüst, der war eigentlich gar nicht hier, denn für ihn ziehen die Dinge nur wie ein stummes Fernsehbild an der Windschutzscheibe vorüber. Dafür muss man nicht herkommen, das kann man auch zu Hause auf dem Sofa erleben – preiswerter und mit deutlich geringerem CO2-Ausstoß.
Du musst nur langsam genug gehen, um immer in der Sonne zu bleiben. (Antoine de Saint-Exupéry)
Abends sitze ich vorm Zelt und blicke auf den stillen See hinaus. Auf dem sumpfigen Uferstreifen hüpfen zwei Bachstelzen auf und ab und wippen mit ihren Schwänzchen. Dass ich in weniger als einer Woche am Nordkap sein werde, kommt mir absolut unwirklich vor. Zwischen mir und dem 13. März liegt eine bewegte und bewegende Ewigkeit voller Herausforderungen, Erfahrungen und Überraschungen. Ich sehe an mir hinunter, dieselbe Hose, dieselbe Jacke wie vor 144 Tagen, aber alles ausgeblichen und zerschlissen. Meine Haare hängen mir im Gesicht und mein Bart in der Tütensuppe. Unter meinen Fingernägeln klebt der Schmutz, meine Handflächen sind rau und voller Hornhaut. Meinen Gürtel muss ich zwei Loch enger schnallen und mein Körper fühlt sich an, als bestehe er nur noch aus Haut und Knochen mit ein paar Muskeln dazwischen.
Mein Verstand weiß, dass zwischen mir und Berlin über 3000 km liegen, und dass ich seit beinah fünf Monaten unterwegs bin. Und trotzdem kommt es mir vor als sei ich gestern erst aufgebrochen, denn der Weg hat sich kaum je langwierig oder langweilig angefühlt. Die vergangenen Monate waren eine vollkommen unwirkliche Mischung aus Schneckentempo und Zeitraffer. Wie im Film. Über die anstrengenden und ermüdenden Phasen habe ich mich irgendwie hinweggeträumt. Dazwischen lagen unzählige intensive und unvergessliche Schlüsselszenen. Das hier ist das Road-Movie meines Lebens – in Echtzeit und dennoch ohne Längen.
Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben. (Ernst Toller)
Schon früh morgens lichtet sich die Wolkendecke und die Sonne kommt heraus. Rasch wird es sehr warm. Endlich mal wieder T-Shirt-Wetter! Bis nach Olderfjord, wo es einen Campingplatz und neuen Proviant gibt, sind es nur 10 km. Die Straße führt überwiegend sanft bergab in Richtung Küste. Das Meer allerdings bleibt lange hinter den Bergen verborgen. Kurz vorm Ortseingang ist es endlich soweit. Es geht in Serpentinen zum Ufer hinunter und plötzlich taucht hinter einer Kurve tiefblau leuchtend der Porsangerfjord auf. Im warmen Sonnenschein hat der Anblick etwas durchaus Mediterranes, doch was da vor mir liegt, ist die Barentssee! Der Altafjord vor einigen Tagen gehörte noch zum Europäischen Nordmeer, das, wenn auch über 1000 km weiter südlich, immerhin an die Nordsee grenzt. Deshalb fühlte es sich nicht ganz so unglaublich an, dort zu sein. Jetzt aber die Barentssee, das ist einfach nur krass!
Olderfjord besteht aus ein paar Holzhäuschen einer Tankstelle und einem kleinen Lebensmittelladen. Eine Entfernungstafel am Straßenrand verkündet „Nordkapp 129 km“. Insgesamt wirkt der Ort eher verschlafen, nur an der Rezeption von Hotel und Campingplatz, die gleichzeitig einen großen Souvenirshop mit allem möglichen Merchandising rund ums Nordkap beherbergt, ist was los. Direkt davor halten die Reise- und Linienbusse. Morgen in einer Woche wird auch Martin hier umsteigen und knappe 2,5 Stunden später wird er wieder bei mir sein. Es fällt mir schwer, zu begreifen, wie nahe ich meinem Ziel jetzt bin. Immer noch und immer wieder denke ich: Gleich wache ich auf und das alles ist nie passiert.
Abends ging ich hinaus in die Dunkelheit, da sah ich einen schimmernden Stern und hörte einen Frosch quaken. Die Natur schien zu sagen: Nun? Ist das nicht genug? (Ralph Waldo Emerson)
Am Ausgang der Bucht fallen die Felsen terrassenförmig zum Meer hin ab. Dazwischen entdecke ich ein paar kleine grüne Flecken. Ich kraxele hinunter und richte mich häuslich ein. Die Luft schmeckt salzig und ich höre die Wellen unter mir gegen die Steine schlagen. Hier und da liegen die Gehäuse angeschwemmter Seeigel herum. Über mir kreisen Möwen und erfüllen die Stille mit ihrem durchdringenden Geschrei. Papageientaucher stürzen sich in die Fluten und steuern anschließend mit ihrer Beute im Schnabel auf irgendeine Felswand zu. Bis spät in den Abend sitze ich da und schaue aufs Meer hinaus.
Die heute vermutlich gefährlichste Ideologie besteht darin, dass die Profiteure des kapitalistischen Systems den Menschen ein „Weiter so“ suggerieren. Sie stellen das Dogma auf, dass „unser Wohlstand“ nicht hinterfragt werden darf. (Leonardo Boff)
Die Sonne scheint mit voller Kraft von einem strahlenden Sommerhimmel herab. Vor dem Hintergrund der tiefblau glitzernden See sind die in knalligem Pink leuchtenden Schmalblättrigen Weidenröschen, die jeden Quadratzentimeter Erde nutzen, um sich irgendwo zwischen den Felsen emporzurecken, ein überwältigend schöner Anblick. Immer wieder geht mir durch den Kopf, wie schrecklich es ist, dass wir so viel vom Wunderwerk der Schöpfung unwiderruflich zerstören für das, was wir Entwicklung und Fortschritt nennen, was jedoch nichts weiter ist als Wohlstandssicherung für die reichsten 20% der menschlichen Bewohner dieser Erde.
Was wir tun, mag legal und häufig sogar erwünscht sein, legitim ist es nicht. Wir schwelgen im Überfluss auf Kosten anderer menschlicher und nichtmenschlicher Geschöpfe und unser aller Lebensgrundlage. Die globalen, ökologischen Kreisläufe, von denen wir alle gleichermaßen abhängig sind, werden unseren Lebensstil auf Dauer nicht verkraften. Wir verfügen über die Existenzbedingungen jetzt lebenden und noch ungeborenen Lebens, als handele es sich um etwas, das uns gehört, als hätten wir das Recht, es mit vollen Armen zu verschwenden und dem Kapitalismus in den Rachen zu werfen. Die verführerische Macht des Geldes erlaubt uns kein Erbarmen, weder mit uns selbst, noch mit unserem Gegenüber.
Es tut gut, unter blauem Himmel zu wandern und den Gedanken freien Lauf zu lassen, auch wenn es immer wieder dieselben Gedanken sind und obwohl denken allein noch nichts ändert, – oder doch?
Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie. (Erich Kästner)
Als das Meer wieder näherkommt, sehe ich in der Ferne Magerøya felsig und schroff aus den dunstig grauen Wellen aufragen. Das ist sie also, die Insel, an deren äußerstem Ende das Nordkap liegt. Magerøya ist nur durch einen Tunnel erreichbar, eine Fähre gibt es nicht. Hinter einer scharfen Linkskurve erblicke ich die erwartete Öffnung im Berg, die in regelmäßiger Folge Autos verschluckt und ausspuckt. Herzklopfen, Schweißausbrüche, weiche Knie und „beruhigende“ Schilder am Straßenrand begleiten mich bis zum Eingang. Da ist von Nebel im Tunnel die Rede, von roten Lampen, die bei Gefahr zu blinken anfangen, und von 6870m Tunnellänge bei 9% Steigung, das Ganze 212 m unter dem Meeresspiegel.
Vorhin habe ich überlegt, hier in der Nähe mein Nachtlager aufzuschlagen und morgen in aller Frühe durch den Tunnel zu wandern – je weniger Autos, desto atembarer die Luft. Jetzt aber wird mir klar, dass das unweigerlich darauf hinauslaufen würde, dass ich kein Auge zutue und mir stattdessen ausmale, was alles Schreckliches in so einem Tunnel passieren kann: Stromausfall, Feuer, Rauchvergiftung, Einsturz… Ich sollte einfach losgehen, bevor ich in irrationale Panik verfalle. Wie neulich stülpe ich meine Jacke um, so dass das leuchtende Innenfutter nach außen zeigt, mache die Kopflampe am Rucksack fest und stecke mir die kleine Nottaschenlampe in die Hosentasche. Knappe 7 km – wenn ich sehr schnell gehe, kann ich das in etwa 75 Minuten schaffen.
Als ich den Tunnel betrete, ist es 15:17 Uhr. Die ersten zwanzig Minuten laufen sich rasch und dank eines geteerten Randstreifens viel komfortabler als neulich im Skarvbergtunnel. Es geht steil abwärts und im Nu habe ich den tiefsten Punkt erreicht. Ab jetzt bleibt der Weg eine ganze Weile eben. Ich versuche krampfhaft, nicht darüber nachzudenken, wieviel Tonnen Meerwasser über mir liegen. Der Lautstärkepegel ist entsetzlich. Um in so einem gigantischen, u-förmig unter dem Ozean verlaufenden Rohr eine gewisse Luftzirkulation zu gewährleisten, bedarf es gewaltiger Entlüfter, die einen Höllenkrach machen, und trotzdem riecht es penetrant nach Tiefgarage.
Das letzte Stück ist am schlimmsten, denn nun geht es aufwärts. 2,5 km im Laufschritt bei 9% Steigung in derart abgasbelasteter Luft, bringen mich an meine Grenzen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis endlich der erlösende weiße Lichtschein auftaucht. Um Punkt halb fünf betrete ich die Nordkap-Insel. Eigentlich ein unfassbar feierlicher Moment, doch ich stolpere nur keuchend in die erstbeste Parkbucht und japse eine Weile vornübergebeugt nach Luft. So richtig glorreich fühlt sich das nicht an.
It always seems impossible until it’s done (Nelson Mandela)
Rechts neben der Straße erstreckt sich zwischen spärlich mit Gras bewachsenen Hügeln ein kleiner See. Am Ufer finde ich ohne Schwierigkeiten einen Schlafplatz. Der Regen hat ein wenig nachgelassen und so kann ich relativ ungestört das Zelt aufbauen. Kaum steckt der letzte Hering im Boden, fängt es wieder so richtig zu schütten an. Ein letztes Mal hocke ich in triefender Regenkluft mit meinem völlig durchfeuchteten Krempel auf zwei Quadratmetern und vollführe unbequeme Verrenkungen, um mich umzuziehen und mein Nachtlager herzurichten. Irgendwie werde ich sogar das vermissen.
Später am Abend kommt die Sonne raus und ich kann den Tag mit einem Spaziergang auf den Hügel hinter meinem Zelt beschließen. Die Gegend gibt sich nicht mehr ganz so karg wie vorhin im Regen. Im helleren Licht leuchtet die Pflanzendecke, von der die Berge im unteren Bereich überwuchert sind wie ein Überzug aus grünem Samt. Ich blicke hinab und lasse meine Gedanken schweifen. 71° Nord und noch 23 km bis zum Nordkap. Jetzt bin ich mir sicher, dass ich es schaffen werde – koste es, was es wolle. Bis hierher habe ich immer wieder gedacht, dass noch irgendetwas dazwischenkommen kann – eine heftige Erkältung zum Beispiel oder eine schlimme Verletzung. Heute Abend weiß ich, ich komme da morgen an, und wenn ich blutend auf allen Vieren krieche und mich mit sämtlichen Medikamenten dope, die ich dabeihabe. Morgen um diese Zeit werde ich einer von keine Ahnung wie wenigen Menschen sein, die von Berlin zum Nordkap gelaufen sind.
Mach nur einmal das, von dem andere sagen, dass du es nicht schaffst, und du wirst nie wieder auf deren Grenzen achten müssen. (James Cook)
Ich kann mir relativ ungestört meinen Weg bis zum Eingang des Nordkap-Hauses bahnen. Ein paar Leute gucken auf meinen Rucksack, aber niemand sagt etwas. Die Schiebetür öffnet sich und ich stehe in einer großen Halle. Die riesige Fensterfront gegenüber erlaubt einen herrlichen Blick auf das Meer und die Weltkugel auf den Klippen. Ich laufe durch die verglaste Tür wieder hinaus und darauf zu. Das ist das Nordkap, wie ich es mir unterwegs wieder und wieder vorgestellt habe.
Eigentlich sollte ich diesen Augenblick genießen, doch es will nicht recht funktionieren. Ich setze mich auf den Boden, starre vor mich hin und fühle mich zum allerersten Mal seitdem ich aufgebrochen bin, wirklich einsam. Menschen schlendern um die Kugel, aber niemand ist allein und nirgends entdecke ich einen anderen Wanderer. Wie schön wäre es, wenn Martin heute noch käme.
Leute fragen, wo ich herkomme, staunen und schießen Fotos. Ein Typ will meinen Rucksack anheben, eine Frau unbedingt den Wanderstock in die Hand nehmen. Ich sage immer wieder dieselben Sachen und posiere mechanisch lächelnd mit dem Ozean im Hintergrund. Ich bin zwar körperlich angekommen, aber noch nicht mit allen Sinnen. Irgendetwas fehlt mir, um zu erfassen, was geschehen ist. All diese Leute verstehen, dass ich von Berlin bis hierher gelaufen bin, nur ich begreife es nicht.
Mein Handy ist vorhin leer gegangen, schlechtes Timing. Ich würde so gern wenigstens ein paar SMS verschicken, vielleicht hilft das gegen die Einsamkeit. In der Hoffnung eine Steckdose zu finden, gehe ich zurück ins Nordkap-Haus. Eigentlich ist es ganz schön hier drin. Eine Treppe führt hinab zur Fensterfront. Die Stufen sind breit, durchziehen die komplette Halle und hier und da sitzen Besucher darauf und schauen zur Kugel und aufs Meer – ein bisschen wie im Theater. Neben der Glastür steht ein Flügel, auf dem spielen darf, wer kann und möchte.
Abseits in einer Ecke entdecke ich eine Steckdose und kauere mich daneben. Hier bin ich weitgehend unsichtbar, werde von niemandem mehr beachtet und kann in aller Ruhe ein paar Nachrichten schreiben. Ich lade ein Foto von der Weltkugel in mein Album hoch. Dazu schreibe ich den Satz „Ich bin wirklich, wirklich hier!!!“
Im Souvenirshop kaufe ich einen Stapel Postkarten samt Briefmarken. In Norwegen kostet so etwas ein kleines Vermögen, aber egal. Heute habe ich das Bedürfnis, vielen Menschen Karten zu schreiben. Zeit habe ich ja genug.
Ich verziehe mich wieder in meine Ecke und kritzele achtzehn Mal einen beinah identischen Text, der ein bisschen wie eine Geburtsanzeige klingt: „Etwas abgemagert, mit langem Bart, wirren Haaren und zerschlissenen Klamotten, aber wohlauf und um viele Erfahrungen reicher bin ich heute am 9. August um 14:45 Uhr am Nordkap angekommen. 150 Tage und 3325 km Straße, Waldweg, Bergpfad, Sumpf, Felsen, Flussüberquerungen mit und ohne Brücken, Tunnel, Sonnenschein, Regen, Wind, Gewitter, Mücken, Rentiere, atemberaubende landschaftliche Eindrücke, herrliche Naturerfahrungen und wunderbare Begegnungen liegen hinter mir. Ich bin voller Dankbarkeit darüber, dass ich diesen Weg gehen durfte und dass ich es tatsächlich bis hierher geschafft habe. Tausend Dank für euer Interesse an meiner Tour! Es hat mir immer wieder gutgetan, mir vorzustellen, dass ihr vielleicht gerade an mich denkt.“ Achtzehn Mal! Hinterher brechen endlich die Tränen aus mir heraus, mit denen ich schon unmittelbar bei meiner Ankunft gerechnet hatte.
Jetzt geht es mir besser. Ich will hinaus zu den Klippen und ein zweites Mal hier ankommen. Doch kaum bin ich aufgestanden, bleibe ich auch schon verdutzt wieder stehen. Ein Sturm ist aufgezogen und tiefhängende Wolken fegen in rascher Folge über das Nordkap-Plateau hinweg. Die Weltkugel taucht ab und zu ganz schemenhaft aus den Dunstschwaden auf, vom Meer ist nichts mehr zu sehen.
Es ist bitterkalt. Nur noch wenige Besucher, stemmen sich, tief in ihre Jacken gehüllt, gegen den Wind. Mir aber ist das gerade recht. Denn so kann ich diesen Ort für mich allein haben. Ich trete nah an die Kugel heran, sehe an ihr hinauf und berühre das Metall. Dann gehe ich bis ganz an die Kante, wo es endgültig nicht mehr weitergeht, beuge mich über das Geländer und lausche. Durch einen milchigen Schleier hindurch höre ich die Wellen, die sich tief unten an der Felswand brechen.
Ich bin am Ziel und dennoch kommt es mir vor, als sei ich gestern erst losgelaufen. Die Zeit verging wie ein langer kurzer Traum, der heute wahrgeworden ist und mir niemals mehr entgleiten kann. Er gehört zu mir und nur zu mir. Ich kann ihn weiterträumen und wiederträumen, wann immer mir danach ist. Ein enttäuschtes Erwachen wird es nicht geben, denn all die Eindrücke, Erkenntnisse und Erfahrungen, die mir diese Reise geschenkt hat, sind real.
Nüchtern betrachtet könnte ich mir vorwerfen, in den vergangenen fünf Monaten nicht viel geschafft zu haben. Ein bis zwei Tage reichen aus, um die Strecke von Berlin hierher mit Flugzeug und Bus zurückzulegen. Für Autofahrer werfen Routenplaner um die 33 Stunden reine Fahrzeit aus. Ich habe etwa 1100 Stunden reine Wanderzeit benötigt, 33mal so viel. Mag sein, dass das nach Zeitverschwendung klingt. Doch habe ich, während ich mich ganz der Langsamkeit des Gehens überließ, so viel gelernt und begriffen wie niemals zuvor in meinem Leben. Noch nie habe ich Zeit so intensiv erfahren und genutzt wie in diesen fünf Monaten.