13. März

Das Leben ist wunderschön, wenn du keine Angst davor hast. (Charlie Chaplin)

BERLIN – da steht es schwarz auf gelbem Grund und durchgestrichen mit einem dicken, roten Balken. Schon hier am Ortsausgangsschild würde ich am liebsten umkehren. Was habe ich mir da nur in den Kopf gesetzt? Fünf Monate nur mit dem auskommen, was in meinen Rucksack passt, ohne ein festes Zuhause und die meiste Zeit ganz allein. Über 3000 km zu Fuß – wie vergeblich erscheint da der einzelne Schritt…

Ich laufe trotzdem weiter – einfach, weil ich zu stolz bin, jetzt schon kleinbeizugeben. Die Luft ist kühl, der Himmel grau. Beidseits der Straße nach Hennigsdorf wächst Buchenwald. Die Zweige sind noch kahl und zwischen den Stämmen liegen matschig verklebt die modrigen Blätter des Vorjahres. Ab und zu düst ein Auto vorbei. Es ist der 13. März, der erste Tag meiner Wanderung von Berlin zum Nordkap. Ankommen kann nur, wer losgeht, und losgegangen bin ich – immerhin. 

14. März

In zwanzig Jahren wirst du eher darüber enttäuscht sein, was du nicht gemacht hast, als was du gemacht hast. Hole den Anker ein und segle hinaus aus dem sicheren Hafen. Erforsche, träume, entdecke. (Mark Twain) 

Als ich im Morgengrauen erwache, ist mein Lager von einer dicken Reifschicht bedeckt und in meiner Wasserflasche klappern Eisstückchen. Die Nacht war ordentlich kalt. Doch kaum bin ich wieder unterwegs, kommt richtig schön die Sonne durch. Heute geht es ein paar jener endlosen schnurgraden Alleen entlang, die für Brandenburg mindestens ebenso typisch sind, wie die Kiefernwälder. Rechts und links liegen Felder, Seen und von kleinen Bächen durchzogene Feuchtgebiete. Kraniche staksen umher und stoßen ihre charakteristischen Trompetenrufe aus.

Gegen Nachmittag humpele ich mit ersten heftigen Blasen nach Wustrau hinein. Der Ort ist sehr malerisch mit überwiegend alten Häusern und einem prächtigen Schloss. Im kleinen Dorf-Edeka versorge ich mich mit neuem Proviant und suche mir dann ein Plätzchen auf einer Bank am See. Am Ufer wachsen hohe, von Efeu berankte Bäume. So viel Grün zusammen mit dem Sonnenschein und dem Geschnatter unzähliger Wasservögel erinnert schon ein bisschen an Frühling. Ich verdrücke mühelos drei dick belegte Käsebrötchen. Unglaublich, wie hungrig mich die körperliche Anstrengung macht und wie gut eine so einfache Mahlzeit an der frischen Luft schmeckt.

15. März

Ein Schritt weg von der Zivilisation sind zwei Schritte zu mir selbst. (Robert Rauch)

Ich bin froh, als ich endlich von der Landstraße auf einen Forstweg abbiege. Ich habe die Autos gründlich satt. Stundenlang laufe ich durch menschenleeren Wald. Kurz vor Sonnenuntergang taucht am Rand einer Wegkreuzung ein überdachter Picknicktisch auf. Ich lege meine Isomatte in einen weichen Laubhaufen unter einer Eiche mit weit ausladender Krone. Langsam bricht die Dunkelheit herein. Im Licht der Taschenlampe schreibe ich meine ersten Tagebucheinträge. Ich bin eine leuchtende Insel mitten im dunklen Wald. Eingekuschelt in den warmen Schlafsack ist das ein sehr gemütliches Gefühl. Zwischen dem kahlen Geäst über mir gehen nach und nach die Sterne auf. Der Löwe steht hoch im Süden und Orion ist schon irgendwo hinter den Baumwipfeln verschwunden. Es wird Frühling! 

16. März

Was schön ist, erhaschen wir, während es vergeht. Es zeigt sich in der vergänglichen Gestalt der Dinge in dem Moment, da wir gleichzeitig ihre Schönheit und ihren Tod sehen. Heißt das, dass man sein Leben auf diese Weise führen sollte? Immer im Gleichgewicht zwischen der Schönheit und dem Tod, der Bewegung und ihrer Auflösung? Vielleicht heißt lebendig sein das: Augenblicke zu verfolgen, die sterben. (Muriel Barbery, Die Eleganz des Igels)

Jenseits der Stadt geht es wieder durch Kiefernwald. Die tiefstehende Sonne schickt warme, orange Strahlen zwischen den Stämmen hindurch. Die Luft ist voller Harz- und Frühlingsduft. Irgendwann sehe ich Wasser hinter den Bäumen schimmern und wenig später erreiche ich eine große umzäunte Wiese am Seeufer. Am Eingang hängt ein Schild „Campingplatz am Bikowsee, geöffnet“. Weit und breit ist kein Mensch zu entdecken, auch kein Auto, Wohnwagen oder Zelt.

Vorsichtig drücke ich die Klinke des Gartentors, das sich quietschend öffnet. Eine Holztreppe führt auf die Terrasse eines Häuschens und zu einer Tür mit der Aufschrift "Rezeption". Ich trete in einen kleinen sonnigen Korridor. Auf den Fensterbrettern stapeln sich Prospekte über die Gegend, in der Ecke steht ein Schreibtisch. Ein reichlich absurdes, in allen möglichen Farben geschecktes Kaninchen mit Schlappohren hoppelt auf mich zu und beschnuppert meine Schuhe.

17. März

Als Pilger sind wir letztlich Einzelgänger, denn wir sind mit uns unterwegs auf dem einzig möglichen Weg. Das spürt man als Pilger schon nach wenigen Tagen. Man fällt in eine eigentümliche Gemütsbewegung. Man bekommt eine Ahnung des letzten Weges, den jeder ganz allein, ganz für sich geht. Die Mystiker haben diese Erfahrung Läuterung genannt: Der Weg reinigt den Pilger von allem Überflüssigen, Falschen und Widerständigen, so wie sich der Körper von den alten Schlacken eines allzu sesshaften Lebens befreien kann. Wer es gelernt hat, loszulassen und sich zu verabschieden, wer so viele Abschiede hinter sich gebracht hat, wird keine allzu große Mühe haben, am Ende seines Lebens alles loszulassen und sich in die Hände Gottes fallen zu lassen. (Roland Breitenbach)

Auf meinem Zelt liegt eine ordentliche Reifschicht. Klare Nächte sind oft bitterkalt. Erst nachdem ich ein dick mit Nutella und Erdnussbutter bestrichenes Brötchen verdrückt habe, kann ich mich dazu durchringen, mich aus dem warmen Schlafsack zu schälen und mir die eisigen Wanderklamotten überzuziehen. Gegen das Frieren helfen vor allem zwei Dinge: Bewegung und Kalorien – am besten Schokolade! 

Zum Glück ist der Himmel strahlend blau. Die Sonne steigt rasch höher und schon auf den ersten Kilometern scheint sie mir angenehm warm ins Gesicht. Nach etwa zwei Stunden Weg passiere ich die Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern – ein kleiner Etappensieg, der mich sehr froh macht und mir das Gefühl gibt, voranzukommen. Ich halte an und fotografiere das Schild. Zwei Waldarbeiter, die in einem Auto am Wegesrand ihre Butterbrote essen, sehen mir belustigt zu. 

18. März

Wer am wenigsten von der Welt hat, der hat am meisten von ihr. (Meister Eckhart)

Es ist trüb und windig. Ich wasche mich notdürftig auf der Toilette des Hotelrestaurants. Meine Trinkflaschen passen nicht unter den Wasserhahn. Also krame ich meine Tasse heraus, fülle sie mehrere Male und gieße den Inhalt in die Flaschen um. Ein adrett gekleideter Hotelgast kommt herein und sieht mich mitleidig-skeptisch an. Ich fange seinen Blick kurz auf und schaue dann weg. Theoretisch könnte ich auch hier im Hotel logieren, praktisch will ich es nicht!

Langsam ändern sich Landschaft, Dörfer und Menschen. Ich spüre deutlich, dass das nicht mehr Brandenburg ist. Die Leute sprechen einen Dialekt, der weniger nach Berlin und mehr nach Küste klingt, Kiefernwald wird seltener und immer mehr Häuser sind reetgedeckt. Der Weg heute führt ausschließlich übers Feld – nur vereinzelt Bäume und weit und breit keine windgeschützte Stelle. Entsprechend zugig und zügig fallen meine Pausen aus. 

Das Wetter ist so ungemütlich-herbstlich, dass ab und an Leute im Auto neben mir anhalten und mir anbieten, mich ein Stück mitzunehmen. Ich freue mich, dass es so nette Menschen gibt, lehne aber jedes Mal dankend ab. Ich will nicht zum Nordkap trampen, sondern jeden einzelnen Meter zu Fuß zurücklegen.

19. März

Vereinfache, vereinfache, vereinfache. Wir müssen wieder lernen, einfach zu leben, dann gewinnen wir unsere Freiheit zurück. (Thoreau)

In der Ferne erhebt sich die Klosterkirche von Malchow. Ich sehe sie lange bevor ich den Ort tatsächlich erreiche. Die Altstadt drumherum ist perfekt restauriert, der Rest ist ziemlich heruntergekommen. An der Ausfallstraße nach Westen finde ich einen Lidl. Es landen reichlich Kilos in meinem Einkaufswagen, denn ich muss für zwei Leute einkaufen. Morgen wird mein Kumpel Jan mit der Bahn hier ankommen und mich zusammen mit seinem Hund Jerry bis Rostock begleiten.

 

Wenn ich auf den Parkplätzen vor den Supermärkten meine Einkäufe im Rucksack verstaue, werde ich meistens von irgendwem angesprochen. Es sind immer wieder dieselben Fragen. Wo ich hin wolle und warum, ob der große Rucksack nicht zu schwer sei, wie viele Kilometer ich pro Tag schaffe… Manche Leute sind nett und interessiert, machen bewundernde Kommentare oder scheinen mich gar zu beneiden, so als sähen sie in mir jemanden, der etwas wagt, was sie auch gern tun würden. Andere behandeln mich misstrauisch oder von oben herab. Ich glaube sie halten mich für einen armen Irren, einen Sozialfall, einen Obdachlosen oder einen komischen Aussteiger, der sich nirgends anpassen kann und mit dem man auf keinen Fall tauschen möchte.

20. März

Alles ist möglich für die, die vertrauen (Mk 9,23)

Jan baut sein Zelt neben meinem auf und drückt mir beim Auspacken einen ziemlich schweren Beutel in die Hand. Stimmt, das sind alles Sachen, die mitzubringen ich ihn gebeten habe, nur notwendige Dinge, aber trotzdem werde ich ordentlich daran zu schleppen haben: eine volle Gaskartusche, Wanderkarten für die nächsten 1700 km und neue Lektüre – natürlich „Nils Holgersson“, was sonst sollte man lesen während man Schweden von Süd nach Nord durchquert?

Mein Rucksack ist mir bisher schon nicht gerade leicht vorgekommen, aber jetzt... Mir graut ein bisschen vor Morgen. Wieder einmal spüre ich diese Diskrepanz zwischen Planung und Wirklichkeit. Ich habe mir das alles zu Hause am Schreibtisch genau überlegt. Mich nun aber tatsächlich ganz langsam Tag für Tag mit 25 kg auf dem Buckel vorwärts zu bewegen, das ist etwas völlig anderes. Ich bin ein verschwindend kleiner Punkt inmitten von Wäldern, Feldern und Bergen, und zwischen Start und Ziel liegen etwa 5 Millionen Schritte.

21. März

Ich glaube an Gottes gute Schöpfung - die Erde, sie ist heilig. Gestern, heute und morgen. Taste sie nicht an! Sie gehört nicht Dir! Und keinem Konzern! Wir besitzen sie nicht wie ein Ding, das man kauft, benutzt und wegwirft. Sie gehört einem anderen. Was könnten wir von Gott wissen, ohne sie, unsere Mutter; wie könnten wir von Gott reden, ohne die Blumen, die Gott loben, ohne den Wind und das Wasser, die im Rauschen von ihm erzählen. Wie könnten wir Gott lieben, ohne von unserer Mutter das Hüten zu lernen und das Bewahren. Ich glaube an Gottes gute Schöpfung - die Erde. Sie ist für alle da, nicht nur für die Reichen, sie ist heilig, jedes einzelne Blatt, das Meer und das Land, das Licht und die Finsternis, das Geboren Werden und das Sterben. Alle singen das Lied der Erde. Lass uns nicht einen Tag leben und sie vergessen. Wir wollen ihren Rhythmus bewahren und ihr Glück leuchten lassen. Sie beschützen vor Habsucht und Herrschsucht. Weil sie heilig ist, können wir suchtfrei werden. Weil sie heilig ist, lernen wir das Heilen. Ich glaube an Gottes gute Schöpfung - die Erde. Sie ist heilig. Gestern, heute und morgen. Amen (Dorothee Sölle, Credo für die Erde)

Nachmittags schlagen wir unsere Zelte zwischen ein paar großen Findlingen auf. Eine Infotafel erklärt, dass es sich um ein jungsteinzeitliches Grab handelt. Die dicken Brocken begrenzen einen Kreis von einigen Metern Durchmesser, in dem sich große Mengen alten Laubs angesammelt haben. Hier ist es windgeschützt, weich und gemütlich. Das findet auch Jerry, der sich tief in den Blättern vergräbt. Wir schmeißen den Kocher an, machen uns Kaffee und essen dazu reichlich Süßkram. Dabei kommen wir ins Plaudern und vergessen völlig, dass es eigentlich ziemlich kalt und nass ist.

Gegen Abend allerdings geht der Nieselregen in einen veritablen Platzregen über und wir müssen uns fluchtartig in die Zelte verkriechen. Es pladdert so laut, dass wir uns, obwohl kaum zwei Meter zwischen uns liegen, kaum noch verständigen können. Mit viel Gebrüll einigen wir uns darauf, uns heute nicht mehr zum Kochen hinauszubewegen. Nüsse, Kekse und Schokoriegel, wovon jeder noch einen ordentlichen Vorrat bei sich im Gepäck hat, schmecken ja auch ganz gut.

Ich bleibe noch lange wach, schreibe Tagebuch, lese und träume vor mich hin. Solche Abende sind, trotz aller scheinbaren und zum Teil auch realen Unbequemlichkeit, auf ihre Art wahnsinnig erholsam, denn auf 2 m² Zelt kann man beim besten Willen nichts weiter tun, als auf der faulen Haut zu liegen.

22. März

Die besten Dinge im Leben sind nicht die, die man für Geld bekommt. (Albert Einstein)

Als der Regen aufhört, setzen wir uns mit einem warmen Kakao vors Zelt. Wenn der auch nur mit heißem Wasser aufgegossen ist, so schmeckt er hier draußen doch tausendmal besser als irgendeine abgefahrene „spicy flavored premium caramel double hot Chocolate“ in einer großstädtischen Café-Lounge. Das fasziniert mich am Unterwegssein immer wieder: Was ich unter normalen Umständen für unbequem und strapaziös halten würde, kann ich in vollen Zügen genießen und bin dabei viel glücklicher, als ich es umgeben von allem erdenklichen Komfort jemals sein könnte. Natürlich ist nicht plötzlich Sommer geworden. Wir bibbern und unsere Hände sind rau und aufgesprungen, aber umso schöner ist es, die warme Tasse mit allen Fingern zu umschließen. Wir schauen über den See, lauschen dem Geschnatter der Wasservögel und atmen die frische Luft. Es ist ein Irrtum, dass Verzicht zwangsläufig Entbehrung bedeuten muss. Verzicht als freiwillige, bewusste Handlung kann ungeheuer bereichernd sein.

23. März

Das kapitalistische System stellt im Grunde die Antwort auf folgende Fragen dar: Wie lässt sich mit einem Minimum an Investition innerhalb der kürzestmöglichen Zeit mehr Gewinn erzielen und wie kann man dabei noch seine Macht ausdehnen? Die Umsetzung dieser Gewinn- und Herrschaftsmaximierung setzt die Herrschaft über die Natur und die Vernachlässigung der Bedürfnisse künftiger Generationen voraus. Die angebliche Entwicklung hat sich als nicht nachhaltig erwiesen, denn da, wo man sie etabliert hat, hat sie zu schwerwiegenden sozialen Ungleichheiten geführt, sie hat die Natur verwüstet und ihre Ressourcen über das Maß hinaus ausgebeutet, innerhalb dessen die Natur sich regenerieren könnte. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um Entwicklung, sondern lediglich um materielles Wachstum, das sich an wirtschaftlichen Vorteilen und nicht an einer umfassenden Entwicklung bemisst. (Leonardo Boff, Zukunft für Mutter Erde)   

Am frühen Nachmittag erreichen wir die Jugendherberge. Jan wartet mit Jerry draußen, ich gehe hinein. Die Dame an der Rezeption mustert mich mit einigem Widerwillen, dann zwinkert sie aufgeregt mit den Augen. Ein Wanderer mit großem Rucksack, matschigen Schuhen, wirrem Haar, der obendrein noch etwas verschwitzt riecht, und so was in einer Jugendherberge! Wäre ich ins Ritz Carlton hineingestapft, ich hätte mich kaum unwohler gefühlt.

Nachdem ich mein Anliegen vorgetragen habe, schüttelt sie hektisch mit dem Kopf und macht abwehrende Gesten mit den Händen. „Ja, ja, ich geh ja schon“ denke ich etwas erschreckt. Dann aber nehme ich nochmal allen Mut zusammen, setze mein gewinnendstes Lächeln auf und frage, ob sie eventuell einen Tipp hat, wo in der Nähe zwei Wanderer mit Hund für eine Nacht unterkommen könnten.

Ein wenig Mitleid scheint sich in ihr zu regen. Jedenfalls überlegt sie kurz und meint dann, wir sollten es ein Stück die Straße runter beim Hotel Grenzburg versuchen, da dürfe man zu dieser Jahreszeit manchmal im Garten zelten. Ihre Stimme klingt nach einer Mischung aus Überlegenheit und schlechtem Gewissen. Für mich fühlt es sich an, als hätte ich um ein Almosen gebettelt und sie mir 50 Cent zugeworfen. Ich bedanke mich – halb aufrichtig, halb gespielt – und spüre ihren erleichterten Blick im Rücken, als ich durch die vollautomatische, kindersichere Hightech-Drehtür zurück auf den Parkplatz stiefele. 

24. März

Der Weg nach Norden ist der Weg der Reflexion und der Tiefe, und du wirst lernen mutig zu sein. (Weisheit der Native Americans)

Die Ausfallstraße nach Norden haben wir rasch gefunden und bald wird es ruhiger. Wir wandern über einsame Feldwege und durch kleine Dörfer. Nur die letzten paar Kilometer entlang einer Schnellstraße sind nochmal so richtig anstrengend. Ein Auto nach dem anderen düst an uns vorbei. Jerry tut mir echt leid, und auch wir sind ganz schön erledigt, als wir endlich den Campingplatz erreichen. Die Frau an der Rezeption freut sich, dass auch mal Leute zu Fuß kommen. Radler gäbe es ab und zu, aber Wanderer seien wirklich selten, erst recht zu dieser Jahreszeit. Auf ihre Frage, wo es hingehe, antworte ich zum ersten Mal nicht „nach Rostock“, sondern sage, dass ich mit der Fähre nach Schweden will, um ein bisschen in Richtung Norden zu laufen. Langsam fange ich zumindest an, daran zu glauben, dass ich es weiter als bis Rostock schaffe. Wie weit, das wird sich zeigen.

25. März

On bended knee is no way to be free

Liftig up an empty cup, I ask silently

That all my destinations will acceot the one that's me

So I can breathe

Circles they grow and they swallow people whole

Half their lives they say goodnight to wives they'll never know

Got a mind full of questions and a teacher in my soul

And so it goes

Everyone I come across in cages they bought

They think of me and my wandering but I'm never what they thought

Got my indignation but I'm pure in all my thoughts

I'm alive

 Wind in my hair I feel part of everywhere

Underneath my being is a road that disappeared

Late at night I hear the trees they're singing with the dead

Overhead

Leave it to me as I find a way to be

Consider me a satellite forever orbeting

I know all the rules but the rules did not know me

Guaranteed

(Eddie Vedder, Into the Wild)

Am frühen Nachmittag passieren wir das Ortsschild „Rostock“. Mein erstes großes Etappenziel! Immerhin 250 km liegen hinter mir. Das sind zwar erst 7,5% der Gesamtstrecke, aber von solchen Rechenexempeln will ich mich nicht entmutigen lassen. Bisher macht mir das Wandern so viel Spaß, dass ich allen Grund habe, den viereinhalb Monaten, die noch vor mir liegen, voller Vorfreude entgegen zu sehen. Die vorbeirasenden Autos wirbeln reichlich Matsch auf. Doch statt mich zu ärgern, spritze ich vergnügt zurück, indem ich schwungvoll in jede Pfütze patschte. Ich bin einfach nur glücklich.

26. März

Aus erde sind wir gemacht

doch sehr mobil und trennbar

verbringend die tage

in flughäfen und autos

gern wär ich der vogel

der ich einst war

leicht und vergesslich  

Gott und die erde haben gedächtnis

sie lassen sich nicht teilen

beliebig verbringen

in andere länder

gern wär ich der vogel

schmerzlos flög ich in dich

mein immer dunklerer himmel

(Dorothee Sölle)

Gegen 16 Uhr mache ich mich auf den Weg zur Fähre, denn ich möchte noch vor Einbruch der Dämmerung dort ankommen. Rasch finde ich die Hinweisschilder des Berlin-Kopenhagen-Radweges wieder, denen ich ganz bequem bis zum Hafen folgen kann. Die Strecke ist viel schöner als angenommen. Es geht übers freie Feld und durch dörfliche Vororte mit malerischen Backsteinkirchen. Zwar liegen auch trostlose Plattenbaugebiete am Weg, aber wenn man schon Ostseeluft riecht, ist das beinah erträglich, und im Licht der hellen Frühlingssonne erscheint ohnehin alles etwas verklärt.

Der Blick reicht weit über das flache Land und auf den letzten Kilometern sehe ich in der Ferne schon die Hafenanlagen aufragen. Doch bis zum Anleger zu gelangen, ist schwerer als es aussieht. Fußgänger sind auf einem Hafengelände einfach nicht vorgesehen. Überall breite, autobahnartige Straßen, große Parkplätze, endlose Containerwüsten und keine für Wanderer nützliche Beschilderung. Nach einer kleinen Odyssee erreiche ich kurz vor Sonnenuntergang endlich den Fährterminal.