Ich wehre mich gegen ein Verständnis des Lebens, das die Endlichkeit, die Sterblichkeit negiert. In der Schöpfung sind vorgegeben ein Rhythmus des Lebens, ein Kommen und Gehen, eine Zeit des Tages und eine der Nacht, eine Zeit der Wärme und eine der Kälte. Das macht Zeitlichkeit aus und dieses Jetzt oder Für-eine-Zeit im Gegensatz zum Immer gehört einfach zum Leben der Geschaffenen. (Dorothee Sölle)
Mit dem Nationalpark-Tiveden zeigt sich die Provinz gleich von einer ihrer schönsten Seiten. Es handelt sich um ein großes, forstwirtschaftlich ungenutztes und beinah unberührtes, felsiges Waldgebiet mit zahlreichen kleinen Seen. Der Bergslagsleden schlängelt sich unwegsam, aber gut markiert mitten hindurch, vorbei an gigantischen Felsblöcken, die sich zu mächtigen Steilwänden auftürmen und manchmal so groß sind wie kleine Berge. Im Gegensatz zum Nutzwald, der oft recht geordnet wirkt, herrscht völliges Chaos. Fichten und Kiefern schießen aus Felsspalten empor und wachsen kreuz und quer. Uralte stehen neben ganz jungen Bäumen, auf der Erde liegt reichlich Totholz, entwurzelte Stämme versperren den Weg oder lehnen sich wackelig irgendwo an. Morsches Holz knarrt im Wind und manchmal kullern Gesteinsbrocken hallend einen Abhang hinab. Am Boden ist es schattig und sumpfig-feucht, das Grau der Felsen ist vor lauter Moos und Flechten kaum zu sehen und überall sprießen Pilze. Es riecht modrig und frisch, nach neuem Leben und nach Tod zugleich.
Mir begegnet im gesamten Nationalpark kein Mensch. Oben auf dem Aussichtspunkt Stora Trollkyrkan sehe ich nichts als Baumwipfel. Ich bin so weit das Auge reicht von Wald umgeben, ein winziger unscheinbarer Punkt. Um hier wieder heraus zu kommen, muss ich jeden Meter auf meinen eigenen Beinen (und manchmal auch auf allen Vieren) zurücklegen, bergauf und bergab, durch Sumpf, über Flüsse und an Felswänden entlang. Ich bin klein wie die Waldameisen zu meinen Füßen. Und genauso wie ich mit dem einen oder anderen Schritt ein paar von ihnen tot trete – nicht aus Niedertracht, sondern vollkommen ohne Absicht – könnte mich dieser Wald ganz unbemerkt verschlucken. Das würde einfach geschehen, weil es zu geschehen hätte, nicht um mir Böses zu tun. Es ginge dabei gar nicht um mich.
Oft überkommt mich das Gefühl der Freiheit erst, wenn ich wochenlang unterwegs bin. Wenn ich weg bin von Telefon, Post und Bürokratie, von der Unfreiheit, auch der Regeln, die das menschliche Zusammenleben in den Städten mit sich bringt. (Reinhold Messner)
Schon bald stoße ich auf ein Schild: „Munkastigen trailrun“ – und zwar heute! Die Munkastigen ist ein etwa 40 km langer Wanderweg, der von Olshammar an der Nordspitze des Vätternsees bis zur Klosterruine Ramundeboda führt. Dort, wo ich mich gerade befinde, ist die Munkastigen identisch mit dem Bergslagsleden, und so dauert es nicht lange, bis ich es hinter mir im Wald Keuchen höre. Kurz darauf düst der erste Läufer an mir vorbei. Weitere folgen, zuerst nur ganz vereinzelt, dann immer dichter hintereinander. Damit ist der Traum vom Bergslagsleden als einem der letzten einsamen, weitgehend unberührten Wildnispfade Europas für die nächsten Stunden ausgeträumt. Aber ich bin zur Zeit lang und oft genug allein in der Natur. Vergnügt lächele ich den Läufern zu, und viele grüßen zurück. Als ich von einer Truppe Männern mit Tonsur-Perücken und schwarzen Kutten überholt werde, weiß ich endlich, was „munk“ bedeutet. Macht ja auch Sinn, schließlich endet der Wanderweg an einer Klosterruine.
Ich kreuze eine Landstraße, wo sich ein paar Zuschauer zum Anfeuern versammelt haben. An einem Getränkestand werde ich großzügig mit Limonade und Bananen beschenkt. Es tut gut, ganz unerwartet frisches Obst zu essen, denn das ist auf so einer Tour ein echtes Luxusgut. Ein paar Kinder werfen mir neugierige Blicke zu und fragen mich etwas. Ich verstehe natürlich kein Wort. Die Mutter übersetzt. Die Kinder sind vor allem von meinem großen Rucksack fasziniert und davon, dass ich jede Nacht draußen schlafe. Neugier und Bewunderung spricht aus ihren Gesichtern. Ich glaube, ich weiß ungefähr, was in ihnen vorgeht. Als Kind habe ich selbst oft davon geträumt, Tag und Nacht draußen zu sein und alle möglichen Abenteuer zu erleben. Kindheitsträume können wahr werden, auch noch mit 34!
Abenteuer: Eine von der richtigen Seite betrachtete Strapaze. (Gilbert Keith Chesterton)
Als ich die Augen aufschlage, blendet mich jene winterlich-weiße Helligkeit, wie sie nur entsteht, wenn alles verschneit ist. Über Nacht ist nochmal ordentlich was runtergekommen und meine Fußspuren von gestern sind unter einem dicken Teppich aus Neuschnee verschwunden. Zum Frühstück lege ich mir ein paar Scheiben betonharte Butter aufs Brot. Während ich mich mit dem Taschenmesser abmühe, muss ich laut vor mich hin lachen, hatte ich doch vor Kurzem noch das gegenteilige Problem. Egal, Hauptsache Essen. Ich stopfe noch ein paar tiefgefrorene Kekse hinterher. Dann ist es Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Ich muss raus aus meinem Schlafsack und rein in die brettharten, eisigen Klamotten. Diesmal sind meine Schmerzensschreie so laut, dass ich mich selbst davor erschrecke. Hoffentlich hört mich hier niemand.
Als ich aufbreche, fallen schon wieder Flocken vom Himmel. Bereits unter normalen Bedingungen ist es schwierig, trockenen Fußes über sumpfigen Untergrund zu laufen, jetzt ist es beinah unmöglich. Normalerweise finde ich immer ein paar mehr oder weniger feste Stellen, auf die ich treten kann – Grasbüschel, Wurzeln, Steine. Doch nun liegt alles unsichtbar unter dem Schnee verborgen. Ständig stehe ich bis zum Knöchel im Matsch. Manchmal krache ich vorher durch eine ganz dünne Eisschicht. So kalt, dass der Boden fest überfrieren kann, ist es gottseidank nicht, obwohl das Vorwärtskommen dann einfacher wäre. Aber eigentlich ist es auch egal, wie nass meine Füße werden, denn meine Schuhe und Socken waren schon beim Anziehen das Gegenteil von trocken, und so beschließe ich, einfach munter drauflos zu laufen, dass der Matsch nur so auf den weißen Schnee spritzt.
Gegen neun Uhr hört es auf zu schneien, und als verhaltener Schein hinter grauen Wolken zeigt sich ein wenig die Sonne. Ich erreiche eine große felsige Ebene. Aus den Spalten im Gestein schießen Heidekraut und die eine oder andere kleine Kiefer hervor. Ich bleibe stehen, schaue zu dem schwachen Schimmer am Himmel empor und bin kurz davor, ihn anzubeten. Jedenfalls verstehe ich wieder einmal, weshalb es in vielen Kulturen Sonnengötter gibt. Ich sehne mich wahnsinnig nach ein bisschen Wärme.
Eigenartigerweise taucht der Mensch in der Evolutionsgeschichte erst auf, als die Erde bereits zu 99,98 Prozent fertig war. Die Menschen haben der Geburt der Erde nicht beigewohnt und die Erde bedurfte der Menschen nicht, um ihre Komplexität und Artenvielfalt hervorzubringen. Wie also kann sie den Menschen gehören? Lediglich Dummheit gepaart mit Überheblichkeit kann einen Besitzanspruch auf die Erde erheben. (Leonardo Boff)
Nachmittags gelange ich an einen kleinen Teich, der im Sonnenschein bläulich schimmert und dessen Ufer von einem breiten Gürtel aus Sumpfvegetation in vielfältig leuchtenden Gelb-, Rot- und Grüntönen bedeckt sind. Zusammen mit dem strahlend blauen Himmel und den weißen Schäfchenwolken bildet das ein atemberaubend schönes Farbenspiel. Zwei Bachstelzen hüpfen mühelos und elegant auf dem Sumpf auf und ab. Ich sehe an meinen matschbespritzten Hosenbeinen herunter. Also was nassen Untergrund betrifft, haben die beiden die entschieden bessere Strategie.
There is no way to happiness,
happiness is the way. (Buddha)
Garphyttan ist ein kleiner Ort mit etwa 1600 Einwohnern. Das Stadtbild wird dominiert von einem riesigen Kabelwerk, schön geht anders. Aber egal, ich will hier ja nur einkaufen. Auf einer Bank vor dem Supermarkt verdrücke ich reichlich Obst und Kuchen. Zwei alte Leute kommen vorbei, beide auf ihre mit Lebensmitteln beladenen Gehwagen gestützt. Sie sprechen mich freundlich an. Als sie merken, dass ich kein Schwedisch verstehe, setzen sie das Gespräch völlig mühelos in astreinem Englisch fort. Ich bin verblüfft. So etwas erwartet man doch nicht von zwei Rentnern in einem 1600-Seelen-Kaff.
Ich finde die beiden auf Anhieb sympathisch und habe keinerlei Hemmungen, ihnen von meinem Vorhaben zu erzählen. Sie setzen sich auf ihre Gehwagen und hören mir begeistert zu. Aus ihren Blicken spricht eine fast kindliche Freude darüber, dass sie heute endlich mal etwas nicht Alltägliches erleben. Sie fragen viel und nehmen richtig Anteil an meinem Abenteuer. Zum Abschied wünschen sie mir Glück und Erfolg, und ich kann ihnen ansehen, dass sie mir ehrlich zutrauen, zu schaffen, was ich mir vorgenommen habe. Sie rollern davon, drehen sich noch einmal um, winken und verschwinden hinter der nächsten Straßenecke.
Bis zum Campingplatz in Ånnaboda geht es hart bergauf. Die Sonne scheint jetzt richtig warm, und ich komme ordentlich ins Schwitzen. Nachdem ich die Jacke ausgezogen und im Rucksack verstaut habe, zieht wie aus dem Nichts eine dicke schwarze Wolke auf und entleert sich prompt. Eilig wühle ich die Jacke wieder hervor, nur um sie fünf Minuten später erneut einzupacken und so weiter…
Der Campingplatz wirkt ziemlich heruntergekommen. Zwei der drei Waschhäuser sind wegen Renovierung geschlossen. Auch das dritte ist nicht gerade schick, aber für eine warme Dusche reicht es. Die Waschmaschine funktioniert, der Trockner leider nicht, und so stehe ich gegen 18 Uhr ein wenig ratlos da mit einem Berg tropfnasser Wäsche. Die Rezeption ist längst geschlossen. Was nun? In einer Ecke entdecke ich ein Bügelbrett. Na dann, – ich habe ja nichts weiter vor heute Abend.
Doch nach einer halben Stunde reicht es mir. Das kann nicht die Lösung sein, dass ich hier die halbe Nacht mit Bügeln beschäftigt bin. Nach einigem Suchen finde ich im Nachbargebäude einen Trockenraum. Ich habe wenig Hoffnung, dass er funktioniert, aber einen Versuch ist es wert. Nachdem ich den Schalter neben der Tür umgelegt habe, fängt ein altertümliches Heizungsgerät beängstigend laut zu rumpeln an. Es riecht ein bisschen nach verbranntem Toast und der kleine Raum wird in Nullkommanichts bullig warm. Also schnell rein mit der Wäsche und raus hier.
Beim Essen schaue ich immer wieder zu dem roten Holzhäuschen hinüber, aus Angst es könnte jeden Moment in Flammen aufgehen. Zum Glück geschieht nichts dergleichen, und eine Stunde später stopfe ich einen Haufen trockene Kleidung in meinen Packsack.
Die längste Reise ist die Reise nach innen. (Dag Hammarskjöld)
Es geht über einen Hügelkamm hinweg in ein bewaldetes Tal, in dem mehrere rauschende Bäche zusammenfließen; die Luft ist kühl und feucht. Ich stoße auf einen Forstweg, der immer breiter wird und nach 4 km auf einer asphaltierten Straße am Ramsjön endet. Bei anderem Wetter ist der Ausblick sicher sehr malerisch, im Augenblick aber fällt dichter Schneeregen und das zerklüftete Ufer samt der vielen kleinen Inseln verschwindet in milchig weißem Dunst.
Ich bin ziemlich durchnässt, als ich in Ramshyttan wieder auf den Bergslagsleden treffe. Das Dorf besteht nur aus ein paar Häusern und Bauernhöfen. In einigen Auffahrten stehen Autos. Das ist aber auch alles, was auf die Anwesenheit von Menschen schließen lässt. Der Ort wirkt so ruhig, dass es fast gespenstisch ist.
Ganz in der Nähe gibt es einen vindskydd. Ich lasse mich erschöpft auf die Holzplanken fallen und beschließe, für heute Nacht hier zu bleiben. Fröstelnd starre ich in den trüben Nachmittag hinaus und fühle mich einsam. Ich habe nicht die mindeste Lust, mich auch nur einen Meter weit zu bewegen. Aber so läuft das nicht auf so einer Tour. Hier gibt es kein sauberes Hotelzimmer mit frisch bezogenen Betten, in die ich mich nur noch hineinlegen muss. Ich gebe mir einen Ruck, schnüre mit halb eingefrorenen Fingern meinen klitschnassen Rucksack auf und packe aus. Als ich endlich trockene Klamotten anhabe und im warmen Schlafsack stecke, sieht die Welt schon ganz anders aus.
Versäume niemals die Gelegenheit zu einer Anstrengung, die dich über dich selbst hinauswachsen lässt. (Jules Verne, Zwei Jahre Ferien)
Plötzlich hält ein Auto neben mir. Ein blankgeputzter Mercedes-Kombi, am Steuer ein junger Mann. Er ist adrett gekleidet – Anzug und Krawatte. Diese Business-Typen sind normalerweise nicht die, die gerne schlammbesudelte Wanderer mitnehmen. Der hier aber bietet mir an, mich zum Campingplatz zu fahren. Es fällt mir wirklich schwer, das Angebot auszuschlagen, aber ich bleibe standhaft. Ich möchte unbedingt zu Fuß zum Nordkap, die ganze Strecke ohne Tricks und Schummelei.
Wie blöd kann man eigentlich sein, denke ich einen Augenblick später, als die Rücklichter zwischen den Schneeflocken verschwinden. Aber dann wird mir klar, wie unzufrieden ich mit mir selbst wäre, wenn ich jetzt da im Auto säße. Keine Ahnung, warum ich so besessen davon bin, wirklich jeden Schritt ehrlich zu wandern, aber ich weiß, dass mir das Ganze, sobald ich auch nur ein kleines Stück nicht aus eigener Kraft zurücklegen würde, sinnlos vorkäme und ich dann arge Probleme hätte, mich zur Fortsetzung meines Vorhabens zu motivieren.
Der Campingplatz mit angegliedertem Hostel sieht leider ziemlich zu aus. Das hätte ich mir eigentlich denken können, denn schließlich laufe ich mit jedem Kilometer Richtung Norden nicht nur immer wieder dem Frühling, sondern auch der Saison davon. Die Tür zur Rezeption ist verschlossen, aber es hängt dort ein Zettel mit einer Telefonnummer. Okay, einen Versuch ist es wert. Zum Glück spricht die Frau am anderen Ende englisch. Pech allerdings ist, dass Hostel und Campingplatz erst in ein paar Wochen öffnen.
Ich stapfe also weiter. Auf meiner Wanderkarte ist ein vindskydd verzeichnet, nur etwa 1 km bergauf in den Wald hinein. Alles liegt unter einer dicken weißen Decke. Der Schnee unter meinen Füßen knarrt bei jedem Schritt und ich hinterlasse eine ganz frische Spur. Vom vindskydd ist weit und breit nichts zu sehen. Als ich die Hoffnung schon beinah aufgeben will, entdecke ich eine tief verschneite Bretterbude zwischen den Bäumen. Die Deckenhöhe liegt deutlich unter einem Meter, an gebücktes Stehen oder Hocken ist nicht zu denken, Sitzen geht mit Mühe, wenn ich den Kopf einziehe. Der Boden ist nicht aus glatt ausgesägten und geschliffenen Holzlatten, sondern aus kaum oder gar nicht bearbeiteten Baumstämmen und dementsprechend uneben. Das Gleiche gilt für Dach und Wände.
Unter komplizierten Verrenkungen und nicht ohne schmerzhafte Zusammenstöße zwischen mir und dem einen oder anderen Balken packe ich meine Sachen aus. Ich ziehe mir die nassen Klamotten vom Leib und kuschele mich in den warmen Schlafsack. Der Wald draußen wird weißer und weißer. Da ich alles, was ich heute noch vorhabe, auch gut im Liegen tun kann, gelingt es mir, mich mit meinem engen Schlafplatz zu arrangieren. Ich esse im Liegen, schreibe Tagebuch im Liegen und lese „Nils Holgersson“ im Liegen. Dabei döse ich schließlich ein, selbstverständlich auch im Liegen.
Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit –:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!
(Nach neue Meeren, Friedrich Nietzsche)
Der Bergslagsleden ist mehr Fluss als Weg. Meine Wanderschuhe sind hoffnungslos vollgesogen. Bei jedem Schritt gibt es ein schmatzendes Geräusch, als liefe ich auf einem Schwamm. Nach etwa zwei Stunden zeigt sich ein klitzekleiner, blauer Fleck am Himmel. Ich starre ihn an und bete inständig, er möge wachsen. Doch sofort fliegen Wolkenfetzen darüber hin und er ist wieder verschwunden. Ich laufe weiter. Jede Faser meines Körpers sehnt sich nach Wärme, und so kommt es mir wie ein Wunder vor, als die Wolkendecke plötzlich mit unfassbarer Geschwindigkeit aufreißt. Ehe ich’s mich versehe, stehe ich unter blauem Himmel mitten im strahlenden Sonnenschein. Ich lege mich auf den Boden, schaue zu den wippenden Ästen der Kiefern empor und lasse die Wärme durch jeden Zentimeter meines Körpers strömen.
Nach einer Weile beginnt ein wildes Wolkenspiel. Ich raffe mich auf und gehe weiter. Hier unten merkt man nicht viel, aber da oben muss es reichlich windig sein. Mit atemberaubender Schnelligkeit wechseln die Farben von Hellblau, über Weiß und Grau zu tiefem Schwarz und über Dunkelblau zurück zu Azur. Zeitweise ist der Himmel nahezu zweigeteilt. Hinter mir im Süden geht die Welt unter und vor mir wölbt sich ein strahlender Sommerhimmel.
Ich bin der Wildnis noch lange nicht überdrüssig, genieße vielmehr ihre Schönheit und das Wanderleben, das ich führe, mit jedem neuen Tag mehr. (Everet Ruess)
Heute ist Walpurgisnacht! In Schweden wird mit diesem Fest das Ende des Winters eingeläutet. In der Nacht zum 1. Mai werden große Scheiterhaufen aus Holz und brennbarem Plunder angezündet, zum Zeichen dafür, dass etwas Neues beginnt. In Nyberget entdecke ich vor beinah jedem Gehöft und überall in den Vorgärten Stapel aus alten Möbeln, Teppichen, Fensterrahmen, kaputten Körben und allem möglichen Kram. Wenn jeder in Schweden so ein großes Feuer macht, dann dürfte es heute Nacht taghell sein.
Die knapp 20 km bis nach Kopparberg, wo der nächste Supermarkt auf mich wartet, wandere ich auf kleinen Straßen und Forstwegen durch eine recht verlassen wirkende Gegend. Am Bredsjön komme ich durch das Dorf Bredsjöfall. Falls dort Menschen leben, dann tun sie das ziemlich gut versteckt. Ich passiere ein paar Gehöfte, wo sich ebenfalls niemand blicken lässt. Sehr vereinzelt gibt es Ackerbau, im Wesentlichen aber scheint das Land forstwirtschaftlich genutzt. Immer wieder Seen, Sümpfe und dichter Wald. Ab und an überquere ich eine Rodung oder sehe in der Ferne auf den umgebenden Hängen die Kahlschläge als braune Rechtecke inmitten wogender grüner Wipfel hervorstechen.
Schließlich gelange ich auf einen Hügelkamm, und vor mir im Tal liegt Kopparberg. Meinen eigenen Berechnungen zufolge, die zugegeben nur mäßig genau sind, überschreite ich etwa hier die 1000-km-Marke. Genauigkeit hin oder her, irgendwann und irgendwo, muss ich die Tausend feiern. Warum also nicht hier? Ich jubele innerlich laut auf, grinse über das ganze Gesicht und reiße die Arme hoch wie der Sieger eines Marathonlaufs ohne Publikum.