Ferguson hielt sich von allen Disputen fern. Er liebte den Kampf mit der Natur, aber nicht die Kontroverse auf dem Papier. Er unterschied sich gründlich von anderen Engländern, die zumeist, wenn sie mit der Kutsche rund um den Genfer See gefahren waren, so unglücklich gesessen hatten, dass sie während der ganzen Fahrt nur ihr Gegenüber und die Fenstergardine sahen, aber später in London von der malerischen Landschaft schwärmten. Wenn Ferguson von einer Landschaft sprach, so konnte man sichergehen, dass er sie nicht nur gesehen, sondern auch zu Fuß durchquert hatte. Er fuhr jedoch nie aus bloßer Lust am Reisen in die Ferne. Er selbst behauptete, er werde zu seinen Reisen getrieben und sagte gern: Nicht ich verfolge meinen Weg. Mein Weg verfolgt mich. (Jules Verne, Fünf Wochen im Ballon)
Es geht kurvig auf und ab. Langsam bessert sich die Sicht, und immer wieder eröffnen sich herrliche Blicke auf die bergige, von Nadelwald bedeckte Landschaft. Gegen Mittag erreiche ich den kleinen Ort Högfors. Es hört auf zu regnen und der Himmel wird rasch immer klarer. Mir ist wieder warm und das nasskalte Wetter von vorhin habe ich so gut wie vergessen. Ich überschreite den 60. Breitengrad und wenig später die Grenze nach Dalarna – wieder eine schwedische Provinz weiter. Vor etwas über einer Woche habe ich Örebro Län betreten. Dalarna zu durchqueren, wird wohl etwas länger dauern – eingeplant habe ich drei Wochen. Es ist die viertgrößte Provinz Schwedens. Nur Jämtland, Västerbotten und Norrbotten, die alle drei noch vor mir liegen, sind größer.
Wow! Dalarna! Das ist wirklich Mittelschweden, nichts mehr mit „Süd-“. Ich schaue an meinen schlammverkrusteten Hosenbeinen hinab und auf meine Füße in den arg mitgenommenen Wanderschuhen. Mit jedem Meilenstein, den ich erreiche, glaube ich ein bisschen mehr an mich selbst und daran, dass jeder einzelne Schritt mich weiterbringt, wie klein und vergeblich er auch erscheinen mag und egal wie verloren ich mich zwischendurch fühle.
Hier bist du und dort ist die Natur.
Leider ist Verschiedenes dazwischen.
Bis zu Dir herüber wagt sich nur
ein Parfüm aus Blasentang und Fischen.
Zwischen Deinen Augen und dem Meer,
das sich sehnt, von Dir erblickt zu werden,
laufen dauernd Menschen hin und her.
Und ihr Anblick macht Dir Herzbeschwerden.
Freigelaßne Bäuche und Popos
stehn und liegen kreuz und quer im Sande.
Dicke Tanten senken die Trikots
und sehn aus wie Quallen auf dem Lande.
Wo man hinschaut, wird den Augen schlecht,
und man schließt sie fest, um nichts zu sehen.
Doch dann sieht man dies und das erst recht.
Man beschließt, es müsse was geschehen.
Wütend stürzt man über tausend Leiber,
bis ans Meer, und dann sogar hinein, –
doch auch hier sind dicke Herrn und Weiber.
Fett schwimmt oben. Muß das denn so sein?
Traurig hängt man in den grünen Wellen,
vor der Nase eine Frau in Blond.
Ach, das Meer hat nirgends freie Stellen,
und der Mensch verhüllt den Horizont.
Hier bleibt keine Wahl als zu ersaufen!
Und man macht sich schwer wie einen Stein.
Langsam läßt man sich voll Wasser laufen.
Auf dem Meeresgrund ist man allein. (Selbstmord im Familienbad, Erich Kästner)
Ich erwache bei strahlendem Sonnenschein. Der Wald ist wie verzaubert. Kein Lüftchen regt sich. Auf allem liegt der Morgentau wie ein silbrig glitzernder Schimmer. Eine schmale Schneise durchs Fichtendickicht führt mich zurück zur Straße. Der Boden ist von einem weichen Moosteppich bedeckt und mein Gang vollkommen lautlos. Auch sonst ist es noch ganz still. Als ich die Straße erreiche, trete ich wie aus einer Märchenwelt heraus wieder ein in die Wirklichkeit.
Gegen zehn Uhr taucht unter mir im Tal die Stadt Ludvika auf. Sie gehört mit ihren 15.000 Einwohnern zu den größten Orten auf meinem Weg durch Skandinavien – getoppt nur von Trelleborg mit etwa 43.000 und Alta in Norwegen mit 20.000 Einwohnern. Ich bin so städtisch unterwegs wie seit über einem Monat nicht mehr. Vielleicht überfordert mich die laute Umgebung, die stark befahrene Straße und die Eisenbahnlinie direkt daneben, auf der unentwegt Güterzüge vorbeirattern. Vielleicht ist Ludvika aber auch wirklich genauso hässlich, wie es mir vorkommt.
Der Supermarkt liegt inmitten eines Gewerbegebiets zwischen Spielhallen, Autohäusern und Baumärkten. Dazwischen stehen vereinzelt Wohnhäuser. Einen derart unattraktiven Blick aus dem Fenster haben in diesem wunderschönen Land sicher die Wenigsten. Ich kaufe ein paar Schokoriegel, die den für deutsche Ohren lustigen Namen „super nötig“ tragen. Eigentlich bedeutet das „super nussig“, aber ich habe die Dinger jetzt tatsächlich super nötig, um mich über dieses traurige Ambiente hinwegzutrösten. Ich hatte völlig vergessen, wie hässliche Städte sind.
Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort. (Wünschelrute, Eichendorff)
Heute steht mir nur eine kurze Etappe bevor, denn 11 km weiter in Grangärde gibt es einen Campingplatz, wo ich Station machen möchte. Ich habe gedacht, wenn ich Dalarna erreiche, dann bin ich in der Wildnis angekommen. Kompletter Blödsinn! Hier ist es dichter besiedelt als in manchen Regionen weiter südlich. Der Weg führt zumeist an relativ befahrener Straße entlang und durch mehrere Dörfer. Der graue Morgenhimmel reißt rasch auf und gegen elf Uhr erreiche ich Grangärde bei strahlendem Sonnenschein.
Der Campingplatz sieht schon von Weitem nicht besonders nach Hightech aus. Von Nahem handelt es sich um ein heruntergekommenes Schnellrestaurant an der Landstraße mit angrenzendem See, an dessen Ufer sich ein paar Dauercamper niedergelassen haben. Bei dem guten Wetter sind viele von ihnen bereits anwesend, werkeln herum oder mähen Rasen. Alles, was außerhalb ihrer Parzellen liegt, gleicht allerdings eher einem frisch gepflügten Acker als einer Zeltwiese. Zum Glück habe ich mittlerweile Übung darin, auf so ziemlich jedem Untergrund ein halbwegs ebenes Plätzchen zu finden, und so gelingt es mir auch hier.
Zur einen Seite kann ich zwischen zwei Birken hindurch auf den See gucken, zur anderen liegt der Ort mit einem hohen Kirchturm in der Mitte – eigentlich ganz malerisch.
Die ausschließliche Verschiebung des Werthaften auf den Menschen verschiebt seinen Ort und seine Stellung in den Strukturen und Funktionsprozessen des Kosmos. Wir sind nicht fähig, zu erfassen, dass jede Komponente des Universums, obwohl sie auch für alle anderen da ist, in erster Linie um der Integrität des Ganzen willen besteht. Der Mensch existiert folglich, soviel Würde er auch selbst besitzt, zu allererst für das Ganze des Universums und der Erde und dann erst für sich selbst. Durch genau dies intime Beziehung mit dem gesamten Kosmos überwinden wir die geistige Fixierung unserer Zeiten, die vor allem aus der radikalen Differenz spricht, die wir zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Welt ziehen. Diese Fixierung wird in dem Augenblick geheilt, in dem wir das uns umgebende Universum als zusammengesetzt aus Subjekten erkennen, mit denen kommuniziert werden kann, und nicht aus Objekten, die zur Ausbeutung freigegeben sind. (Thomas Berry, Das Wilde und das Heilige)
Schließlich erreiche ich ein Felsplateau mitten im Kiefernwald. Aus den Ritzen im Gestein sprießt Heidekraut. Nach Südwesten hin geht es steil bergab, und durch die Bäume hindurch kann ich unten in der Tiefe Flüsse, Seen und noch mehr Wald erahnen. Ich finde, dass ich für heute genug gelaufen bin, hänge meine verschwitzten Klamotten über ein paar Äste, setze mich auf die warmen Steine und genieße die milde Nachmittagssonne.
Nicht lange und ein farbenprächtiger kleiner Gast lässt sich auf meinem nackten Fuß nieder: ein Trauermantel. Das ist ein Schmetterling mit tiefdunkelroten Flügeln, die ganz außen von einem weißen und weiter innen von einem schwarzen Rand mit leuchtend blauen Punkten eingefasst sind. Er bleibt eine ganze Weile still sitzen und sieht wunderschön aus. Ich tue nichts weiter als ihn anzuschauen und mich zu freuen, dass es ihn gibt.
Nicht allein menschliches Leben und menschliche Würde sind hohe Güter, die es zu schützen gilt. Je länger ich unterwegs bin, desto überzeugter bin ich, dass der Wert aller übrigen Geschöpfe, mit denen wir diesen Planeten teilen, nicht geringer zu veranschlagen ist als der unsrige. Wir und alles, was um uns herum entsteht, lebt und vergeht, ergeben gemeinsam ein großes Ganzes, in dem eins ins andere greift und jedes aufs andere angewiesen ist. Der Alltag in den großen Städten macht uns allzu leicht glauben, dass wir unser Überleben aus uns selbst heraus sichern könnten und dazu anderer Wesen nicht bedürften, doch das ist ein fataler Irrtum. Ich hoffe, nachfolgende Generationen werden unseren Glauben an ein anthropozentrisches Weltbild genauso verständnislos belächeln wie wir den an ein geozentrisches.
Der Schmetterling flattert davon und ich erwache aus meinen Gedanken. „Danke“, flüstere ich in die Stille hinein und schaue zum Himmel empor.
Es verspricht eine wolkenlose und windstille Nacht zu werden, da brauche ich kein Zelt. Ich schreibe Tagebuch und lausche den Vögeln. Während ihre Rufe nach und nach verklingen, geht Stern für Stern hoch über mir auf. Es ist Neumond. Die Nacht ist stockfinster und vollkommen klar. Ohne Anstrengung sehe ich das Band der Milchstraße glitzern. Unser Sonnensystem ist nichts weiter als ein winziger Lichtpunkt. Wir überschätzen uns maßlos. Wir sind nicht mehr und nicht weniger als ein verschwindend kleines Wunder aus Sternenstaub. Der Grund unserer Existenz wird uns auf ewig verschlossen bleiben. Wir sollten endlich Demut lernen.
Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will. (Einstein)
Bald nachdem ich aufgebrochen bin, erreiche ich Bastberget, ein wunderschönes Museumsdorf mit alten Holzhäusern inmitten sanft hügeliger Landschaft. Nirgends parkt ein Auto, keine Satellitenschüsseln, keine Blitzableiter, keine Oberleitungen, noch nicht einmal Reifenspuren auf der Straße – als wäre ich in ein vergangenes Jahrhundert gerutscht.
Ich schlage einen einsamen Forstweg ein. Über Stunden nichts als Wald. Plötzlich höre ich es neben mir im Unterholz laut knacken und keine zehn Meter vor mir steht ein Elch. Einen Moment lang schauen wir einander direkt in die Augen. Dann wendet er sich um und verschwindet – rasch, aber nicht hektisch. Es ist erstaunlich, wie elegant sich diese riesigen Tiere im unwegsamen Dickicht fortbewegen können.
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
in allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch. (Goethe, Wanderers Nachtlied)
Gegen Abend erreiche ich den Siljansleden. Ich folge dem Wanderweg durch sumpfiges Gelände bis auf einen Hügel hinauf, wo ich zwischen Kiefern und Fichten ein trockenes, ebenes Plätzchen finde. Die bis zum Boden reichenden kahlen Äste sind voller Moos und Flechten. Dicke, lange Fäden hängen wie grüne Schleppen über den Zweigen und geben den Bäumen ein verwunschenes Aussehen. Nichts regt sich, es ist vollkommen windstill. Die Vögel erfüllen die Luft mit ihrem abendlichen Gesang, ein paar Zitronenfalter flattern umher und eine letzte Hummel summt vorbei.
Wir sind so oft so voll von ängstlicher Unruhe. Ständig meinen wir kämpfen und uns anstrengen zu müssen und andauernd fürchten wir etwas zu verlieren: die Arbeit, die Wohnung, das Auto, Geld, Macht, Statussymbole, Privilegien… Es kann sehr heilsam sein, zu erleben, wie wenig zum Glücklichsein nötig ist. Mir vermittelt es ein Gefühl der Sicherheit, zu erfahren und zu spüren, was ich alles nicht brauche.
Tausend Vergleiche können uns den Zusammenhang allen Lebens zeigen: zum Beispiel, dass dieselbe Sonne, die meine Bohnen zum Reifen bringt, gleichzeitig ein ganzes System von Weltkörpern wie den unsrigen beleuchtet. Wäre mir das stets bewusst gewesen, ich hätte mir manchen Irrtum erspart. (Thoreau, Walden)
Auf einer Lichtung direkt am Ufer eines winzigen Waldsees schlage ich mein Zelt auf. Es ist jeden Nachmittag eine kleine Wohltat, wenn ich endlich die Wanderschuhe ausziehen kann. Meine Haut ist durch die ständige Feuchtigkeit empfindlich geworden und meine Fersen sind wundgescheuert. Eigentlich schmerzt es bei jedem Schritt, aber ich erlebe unterwegs so viel Schönes, dass ich das ziemlich erfolgreich verdrängen kann. Meine Schuhe sehen traurig aus. Die Sohlen haben tiefe Risse und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie brechen. Zum Glück erreiche ich morgen Mora, wo es Einkaufsmöglichkeiten gibt.
Nachdem die Sonne hinter mir versunken ist, erstrahlt das gegenüberliegende Ufer in goldenem Licht. Hin und wieder landet eine Schellente pfeifend und platschend auf dem Wasser. Ein paar Reiher staksen lautlos durchs Schilf. Ich sehe in den dunkler werdenden Himmel hinauf, vor dem sich schwarz die Silhouetten der Bäume abzeichnen. Das weiche Moos kühlt meine nackten Fußsohlen und ich atme die reine Luft der Nacht. Hoch über dem See funkelt Jupiter. Ich beuge mich zum Wasser hinunter, um mir Gesicht und Hände zu waschen, und sehe das Abbild des Planeten auf der ruhigen Oberfläche zittern. Was ist bloß so erstrebenswert daran, abends beim Zähneputzen am Waschbecken in einem Badezimmer zu stehen? Ich habe es vergessen.
Freude empfinden wir, wenn wir neue Erfahrungen machen, und von daher gibt es kein größeres Glück als in einen immer wieder wechselnden Horizont blicken zu dürfen, an dem jeder Tag mit einer neuen, ganz andern Sonne anbricht. (Chris McCandless)
Mich wecken Sonnenlicht und Vogelgesang. Ein neuer, herrlicher Frühlingstag bricht an. Zuerst geht es noch einsam durch den Wald, dann erreiche ich das Örtchen Gesunda am Siljansee, wo schon einige Spaziergänger, Radler und Jogger unterwegs sind. Eine lange Brücke führt auf die Insel Sollerön hinüber. In der Hochsaison soll diese Gegend eine Touristenhochburg sein. Ich begreife sofort, weshalb. Der Siljansee ist einfach von einer atemberaubenden Schönheit. Ich glaube, ich habe noch niemals einen See so prächtig in der Sonne funkeln und glitzern sehen. Mein Blick schweift über mehrere kleine bewaldete Inseln hinweg und verliert sich dann in der schillernden Weite des riesigen Gewässers – „Krombacher, eine Perle der Natur.“ Das Ganze sieht aus, wie für eine Werbung nachbearbeitet und idealisiert, aber diese Herrlichkeit ist echt, es gibt sie wirklich!
The impossible is what takes a little longer. (Fridtjof Nansen)
Ich streife meine Sandalen über und mache mich auf den Weg in die Stadt. Mir fällt gerade noch rechtzeitig ein, dass ich trotz der Affenhitze ein paar Wandersocken mitnehmen sollte, denn die werde ich brauchen, um Schuhe anzuprobieren.
Wahnsinnig groß ist die Auswahl nicht, fast ausschließlich sommerlich luftige Laufschuhe. Ich bin froh, überhaupt etwas zu finden, was über den Knöchel reicht. Es sind zwar eher halbhohe Winterschuhe für die Stadt, und wirklich bergtauglich sehen sie nicht aus, aber was Besseres ist nicht zu haben. Immerhin steht Gore-Tex drauf. Ob auch Gore-Tex drin ist, werde ich merken, wenn ich oben im Fjäll durch den Schnee stapfe.
Ich lege Landkarten und Tagebuchseiten in den Schuhkarton und wickle die Schnürsenkel meiner ausgedienten Treter als Paketband drumherum. Auf diese Weise behalte ich wenigstens eine kleine Erinnerung an meine treuen Wanderschuhe, mit denen ich so viel erlebt habe und die ich morgen hier im Müllcontainer zurücklassen muss. Ich denke einen kurzen Moment darüber nach, sie aus purer Nostalgie mit nach Hause zu schicken, doch dann entscheide ich mich dagegen. Das Paket ist so schon teuer genug: 366 Kronen, das sind 36 Euro!
Ich schreibe Postkarten, erledige den Provianteinkauf für die nächsten vier Tage und abends gibt es wieder Pizza. Hinterher fühle ich mich gut erholt, gestärkt und voller Bewegungsdrang. Ich freue mich riesig darauf, meine Wanderung morgen fortzusetzen. Vielleicht habe ich eine echte Chance, es bis zum Nordkap zu schaffen. Etwas über 2000 km noch! Mental fühle ich mich dazu absolut in der Lage. Wenn ich mich nicht verletze oder mein Körper sonst irgendwie schlappmacht, dann kann mir vielleicht gelingen, was sich eigentlich unmöglich anfühlt.
Mein ist der Morgen in den Wäldern.
Die Stille, die von Sternen fällt.
Die erste Spur hin zu den Feldern.
Und ich erschaffe mir die Welt.
(Eva Strittmatter, Spur)
Der Vasaloppsleden führt gut markiert direkt über das Campingplatzgelände hinweg aus der Stadt hinaus. Es geht größtenteils auf der Ski-Loipe entlang. Der Untergrund besteht aus festgetretenem Schotter und Sand. Schneereste liegen nur noch ganz vereinzelt in den Senken. Das Vorwärtskommen ist vollkommen unproblematisch, ich finde rasch in einen guten Wanderrhythmus und der einförmige Kiefernwald ringsum lässt mich sehr entspannt meinen Gedanken nachhängen.
Mit jedem Meter, den ich gehe, öffnet sich eine neue Perspektive und die alte wird unwiederbringlich Vergangenheit. Alles erscheint ständig in neuem Licht. Die Pflanzendecke öffnet sich, streicht um meine Beine und verwischt meine Spur, indem sie hinter mir wieder zu einem dichten grünen Teppich zusammenschlägt. Ein Buchfink huscht über den Weg und verschwindet auf der anderen Seite im Dickicht, als wäre er niemals hier gewesen. Menschen gehen grüßend vorbei in ihr Schicksal hinein und ich in meines. Unsere Wege kreuzen sich, mal länger mal kürzer, aber auf jede Begegnung folgt ein Abschied. Das Einzige, was bleibt, sind Erinnerungen. Sie kosten nichts, sie wiegen nichts und nehmen auch keinen Platz weg. Ich kann sie in beliebiger Menge besitzen, sie gehören nur mir, niemand kann sie mir nehmen. Ich muss nichts dafür bezahlen, keinen Stecker in die Steckdose stecken und mich in kein WLAN einloggen. Wo auch immer ich mich befinde, meine Erinnerungen werden bei mir sein. Nichts ist so kostbar und von so dauerhaftem Wert wie schöne Erinnerungen und die sammele ich gerade haufenweise.
Erklimme die Berge und spüre die gute Energie. Der Friede in der Natur wird in dich fließen wie der Sonnenschein, der die Bäume nährt. Der Wind wird dich erfrischen, der Sturm dich mit Kraft erfüllen und all deine Sorgen werden abfallen von dir wie die Blätter im Herbst. (John Muir)
Der Pfad zum See Kalvtjärnen, wo ich mein Nachtlager aufschlage, schlängelt sich über heidebewachsene Hügelkämme und durch dichten Nadelwald. Nichts als das Summen der Hummeln und der unermüdliche Ruf eines Kuckucks erfüllen die nachmittägliche Stille. Zum Abendessen gibt es einen Topf voll Gabelspagetti ohne alles. Das klingt ein bisschen langweilig, schont aber die Gaskartusche, und an einem derart schönen Ort schmeckt jedes Essen, ausreichend Hunger und etwas Humor vorausgesetzt.
Über den schwarz aufragenden Silhouetten der Kiefern steht malerisch die Sichel des zunehmenden Mondes. Für einen kurzen Moment sieht es aus, als würde sich dort, wo die Sonne versunken ist, ein glutrot leuchtender Streifen verschneiten Hochgebirges abzeichnen. Sicher bin ich mir nicht, aber wie dem auch sei, weit ist es nicht mehr bis dorthin.